Der Händler
Er hatte die Augen geschlossen. Lang genug hatte er die wahlweise missbilligende oder gelangweilte Miene der Menschenfrau erdulden müssen. Wie er sie hasste. Und er wusste, dass dieser Hass auf Gegenseitigkeit beruhte. Dass er sie noch nicht hatte umbringen lassen, war demselben Grund geschuldet, aus dem er nun die Lider untenhalten konnte, ohne fürchten zu müssen, sie nie wieder öffnen zu können. Das Schicksal hatte sie auf zu einträgliche Weise aneinandergekettet und noch war es zu früh, diese Verbindung auf endgültige Weise zu lösen.
Das Schicksal. Das klang tiefsinniger, als es eigentlich war. In erster Linie waren es zwei Steinfeuerbomben gewesen, die seine Geschäftsräume getroffen hatten. Wie durch ein Wunder waren er und ein Gutteil seiner Wachen mit dem Schrecken davongekommen, während die meisten seiner Sklaven von Gestein erschlagen oder von Feuer verzehrt worden waren. Immerhin hatten sie noch einen letzten Nutzen gefunden, indem sie die wertvollsten Güter in die Kellerräumlichkeiten verbracht hatten, die gleichzeitig den Rückzugsort der Ilythiiri bildeten. Als das Chaos das Haus erreichte, wurden die Zugänge verschüttet und er saß fest – mitsamt seiner Waren und seiner Wachen. Deren Loyalität war er sich ohnehin nie sicher gewesen und die kommenden Tage heizte sich die Stimmung auf. Jegliche Versuche, sich aus dem Keller zu befreien, scheiterten aufgrund nachrutschenden Gesteins. Soviel sie von den Angriffen mitbekommen hatten, mochte es gut möglich sein, dass bei einem zu forschen Vorgehen die ganze Struktur über ihnen zusammenbrechen würde. Während einige der Wachen die Situation mit stoischer Gelassenheit erduldeten, wurde anderen schnell bewusst, dass ihnen nach den Verheerungen, die über Ched Nasad gekommen waren, kaum noch geregelte Bezahlung in Aussicht stand. Sollte man also je wieder aus diesem Gewölbe entfliehen können – warum dann nicht mit ein paar der wertvollen Sachen, die ihr Arbeitgeber hier gehortet hatte?
Glücklicherweise standen diesen Begehrlichkeiten andere entgegen und auch ein paar Befürchtungen. Sein Leibwächter war ein Hüne von einem Ilythiiri, ein mit allen Wassern gewaschener Sargtlin, mit dem sich keiner gern messen wollte. Und eben dieser Leibwächter versprach sich den größeren Vorteil davon, das Blut des Händlers nicht zu vergießen, denn niemand wusste, wie es außerhalb des Gewölbes aussah. Womöglich war der Angriff abgewehrt wurden, das Chaos eingedämmt? Womöglich hatte das Konzil alle Register gezogen und die Ordnung war wiederhergestellt?
Sollten sie aus ihrem Verlies geborgen werden, würde der Tod eines hochangesehenen Händlers wie ihm, nur schwerlich zu verschleiern sein. Am Ende würde es gar das Leben des Händlers sein, an dem ihrer aller Leben hing. Hätten sie gewusst, was draußen tatsächlich vor sich ging, wie es mittlerweile wirklich in Ched Nasad aussah, wäre er womöglich nicht am Leben geblieben. Ironisch?
Nun, ironisch war, was folgen sollte. Einige Zyklen verstrichen und schon drohten Nahrungsmittel, vor allem aber die Luft knapp zu werden. Da regte sich etwas hinter dem Schutt. Und das Etwas wiederum regte den Schutt. Ein schmaler Durchgang wurde freigelegt. Die Ilythiiri, die sich dabei die Hände schmutzig machten, reagierten nicht auf Ansprache und Nachfragen, sondern verrichteten schlicht ihr Werk, schließlich auch unterstützt von den Söldnern. Dann kehrten die Unbekannten ihnen den Rücken und bahnten sich wieder ihren Weg nach draußen. Die ersten Wachen folgten ihnen vorsichtig. Sie kehrten nicht zurück. Nach und nach sahen sich die übrigen genötigt, das Gewölbe zu verlassen.
Draußen trafen sie sich wieder und schnell klärte sich, warum keine der Wachen zurückgekommen war, um Bescheid zu geben. Armbrüste waren auf sie gerichtet, nicht wenige in der Zahl. Halborks, Menschen, sogar zwei Oger waren unter jenen, die sie bedrohten. Der Händler erkannte einige von ihnen. Es waren seine Sklaven, die sich nunmehr offenbar für ehemalige Sklaven hielten. Angeführt wurden sie von einer Menschenfrau, die vor einigen Monden noch in seinen Diensten gestanden hatte, bevor er sie zu einem ordentlichen Preis an Haus Claddath verkauft hatte. Das sagte dann wohl auch etwas über das Schicksal aus, das dieses Haus genommen hatte. Ein Blick über die Ruinen der Stadt sagte, dass es wohl nicht das einzige Adelshaus war, dem es so ergangen war.
Womöglich hätte man es auf einen Kampf ankommen lassen können. Sicher, einige seiner Wachen hätten dabei ihr Leben ausgehaucht, aber wie schnell konnten dieses Pack schon die Armbrüste nachladen? Der Riviil-Anführerin der Bagage schien jedenfalls nicht daran gelegen zu sein, es auf einen Kampf ankommen zu lassen, denn offenbar hatte ihre Truppe in den letzten Zyklen eine Menge durchgemacht. Die Gesichter waren grimmig, aber auch von Erschöpfung geprägt. Da ging es seinen Wachen allerdings nicht viel anders, denn Ruhe hatte in Anbetracht der angespannten Lage im Keller niemand von ihnen gefunden.
Am Ende wurde verhandelt. Die Riviil berichtete, was in den letzten Tagen vor sich gegangen war. Von 30.000 Drow war nur noch ein Bruchteil übrig. Was die Steinfeuerbomben der Duergar nicht vernichtet hatten, wurde durch eine gigantische Wächterspinne zerstört, die das Konzil herbeirufen, aber nicht hatte kontrollieren können. Wer konnte, floh aus der Stadt. Wer blieb, lief Gefahr, Opfer von Monstern zu werden, die die Stadt heimsuchten. Ched Nasad war am Ende.
Während die Ilythiiri fassungslos zuhörten, im Klaren darüber, dass das Gesagte der Wahrheit entsprechen musste, fuhr die Riviil gnadenlos und pragmatisch fort. Zusammen hätte man eine Überlebenschance. Man müsste sich zusammentun, nehmen, was man kriegen kann, aus dem Keller des Händlers – wohl der Grund, aus dem sie dort aufgetaucht war – und was sonst noch in Reichweite zu finden war und dann: nichts wie weg. Angeblich bildeten sich bereits größere Flüchtlingslager in den entfernteren Tunneln.
Und von dort weiter nach Eryndlyn und dann lasse ich euch alle auspeitschen und die Haut abziehen, dachte sich der Händler. Aber dazu sollte es nicht kommen. Ebenso wie vieles andere, was er sich während der nächsten Monate so erhofft hatte. Diese seltsame Allianz aus Drowsöldnern und freien Sklaven erwies sich als außerordentlich schlagkräftig und ertragreich, sowohl was die Versorgung der Gemeinschaft als auch die Wehrhaftigkeit in den Tunneln betraf. Und die Truppe wuchs weiter. Es kamen Ilythiiri hinzu, aber nicht in wesentlich höherer Zahl als Angehörige niederer Rassen, die die Gruppe „bereicherten“. Das sorgte für ein fein austariertes Gleichgewicht, das vor allem darauf basierte, dass sich niemand, absolut niemand über den Weg traute – ganz so, wie sich das für das Unterreich gehörte.
Das Problem: mittlerweile war selbst die Zahl der Drow zu groß, als dass sie noch irgendwo hätten unterkommen können. Die Überlegungen des Händlers, sich mit den anderen Ilythiiri nach Sschindylryn abzusetzen, scheiterten, als sie hörten, dass die Stadt dicht gemacht hatte und keine weiteren Flüchtlinge aufnahm. Die mächtigen Händler der Stadt hatten kein Interesse an verarmten und heruntergekommenen Volksgenossen, die Priesterinnen der Spinnenkönigin betrachteten nach den Katastrophen in Maerimydra und Ched Nasad, sowie der Belagerung Menzoberranzans alles, was von außen kam, als potentielle Gefahr für ihre ohnehin schwindende Macht.
Und der Händler selbst? Er musste sich eingestehen, dass er sich in der Rolle des Anführers dieser Karawane durchaus gefiel. Über die Zeit hatte sich eine gewisse Hierarchie etabliert und ganz unten standen jene, die sich nicht recht in die Gemeinschaft einfügen wollten. Strafe für Diebstahl oder anderweitige Störungen des zerbrechlichen Friedens wurden sofort geahndet. Entweder durch Tod oder – Versklavung. Das führte zu teils interessanten Konstellationen, in denen ehemalige Sklaven plötzlich selbst zu Sklavenhaltern wurden. Der Händler selbst verfügte bald schon über eine ganze Reihe von Dienern. Über weite Strecken wurde er in einer annehmbaren Kutsche befördert. Wo das Gelände unwegsamer wurde, tat es eine Sänfte. So strapazenreich die Reise auch war: er genoss hier mehr Macht und Luxus als er in Ched Nasad auf sich vereinen konnte.
Und doch gab es einen Wermutstropfen. Er saß nicht allein in der Kutsche.
Er schlug die Augen auf, sah sich seine ehemalige Sklavin an, die übellaunig aus dem Fenster zu den vorbeiziehenden, groben Felswänden der Tunnel blickte. Sie hatte es weit geschafft in dieser Zeit. Machtbewusst, eiskalt und durchsetzungsstark hatte sie die Herrschaft über die Nicht-Drow übernommen. Gegen jene, die aufbegehrten, ging sie derart rigoros vor, dass selbst manche Yathrin neben ihr harmlos erschienen wäre. Der Händler ertappte sich dabei, wie er eine gewisse Bewunderung für sie aufbringen musste. Und gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er sie fürchtete. Denn er war genauso abhängig von ihr, wie sie von ihm. Dass sie gemeinsam in der Kutsche reisten, war letztlich auch nur ein Symbol dieser gegenseitigen Abhängigkeit, auf das sie bestanden hatte.
Und so hatte es einige Überzeugungsarbeit gebraucht, um sie zu dieser Reise zu bewegen. Auf Dauer hatte der Händler nicht vor, weiter kreuz und quer durch das Unterreich zu reisen. Er sehnte sich nach dem Luxus eigener vier Wände, die mehr Privatsphäre boten als das große Zelt, in dem er lebte, wenn sie mal für ein paar Tage an einem Ort blieben.
Die Riviil indes hatte keinesfalls vor, sich wieder in die Knechtschaft unter einer Drow-Majorität zwingen zu lassen und ebenso ging es den übrigen Nicht-Drow. Womöglich wäre Schädelhafen eine Option gewesen, aber als der Händler schließlich von einem Handelsposten weit im Osten erfahren hatte, an dem es dem Vernehmen nach nur ein eher schwächeres Haus der Ilythiiri gab und der sich ansonsten ganz dem Handel verschrieben hatte, erschien ihm dies recht verheißungsvoll. Er hatte die Menschenfrau nur noch überzeugen müssen, mit auf die Reise zu kommen. Danach konnte sie ja mit den ihren woanders hin gehen, sollten die Augen örtlicher Sklavenhändler und -jäger gar zu sehr funkeln. Für ihre Mühen würde sie entschädigt und – wer weiß – vielleicht konnte sie ja danach an die Oberfläche und dort ein neues Leben beginnen. Oder irgendwo in einem Tunnel krepieren.
Nur noch ein paar Zyklen und es würde sich zeigen, wie warm der Empfang sein würde, den man ihnen bereitete. Eines war klar: sie würden sich nicht abweisen lassen.
Er schloss die Augen wieder, stellte sich die Karawane vor, in deren Mitte er reiste. Wie sie sich durch die Gänge des Unterreichs schlängelte. 174 Seelen. Die überwiegende Mehrheit wehrfähig. Davon ein guter Teil ausgebildete Kämpfer. Und dann war da noch der Svirf…
Sie würden sich nicht abweisen lassen. Als hätte die Menschenfrau seine Gedanken erahnt, wandte sie ihm den Blick zu und für einen kurzen Moment wich die schlechte Laune und auf ihre Lippen zeichnete sich ein zynisches Lächeln voller Hintersinn.
Die fünfte Tochter
Verrat. Mit keinem anderen Wort ließ sich umschreiben, was sie empfand. Es hatte seine Zeit gedauert, eh sie zu diesem finalen Schluss gekommen war. Am Anfang war es nur ein keimender, unheilvoller Gedanke gewesen, der sie fürchten ließ, gleich im nächsten Moment zu etwas Grausigem zu mutieren. Doch dies blieb aus. Auch dann als der Gedanke wuchs, genährt durch die Erkenntnisse, durch die Widerspiegelung der immer gleichen, intensiven Bilder. Feuerriesen und Dämonen, die sich durch die Ilythiiri-Reihen ihrer Bevölkerung metzelten.
Doch nicht der Verrat Duneth Wharreils war es, der ihr so zugesetzt hatte. Wie hätte sie dies schon in solche Zweifel stürzen können? Nein… der Verrat, den sie spürte, war stärker, tiefgreifender…
Lloth hatte sie verraten. Sie hatte ihre Priesterinnen verraten. Die Ilythiiri verraten. Maerimydra verraten. Sie zuerst dem Halbscheusal Kurgoth überlassen, dann den Anhängern Kiaransalees. Die Tochter spürte den Zynismus der Lehren, die sie von Kindheit an gnadenlos eingetrichtert bekommen hatte, demselben Zynismus, dem ihre Mutter und Schwestern noch folgten, als sie von den Riesen zermalmt wurden. Lloth lässt keinen Platz für Schwäche. Sich dieser Übermacht an Feinden nicht erwehren zu können, zeugt allein davon, dass die Ilythiiri nicht stark genug waren und demnach hatten sie den Tod verdient.
Wie paradox. Über Jahrtausende wächst eine Lloth-gefällige Gesellschaft unter der Herrschaft der Priesterinnen, die sich durch ihre Bindung an die Spinnenkönigin legitimieren und die Weisheit und Macht, die sie durch Gebete erhalten. Dann werden sie dieser Macht beraubt und somit in ihrer Wehrhaftigkeit eingeschränkt und schließlich… vernichtet. Was wenn sie Bestand gehabt hätten? Was wenn sich gezeigt hätte, dass man, auch ohne der Spinnenkönigin zu huldigen, durchaus im Stande ist, sich aller Feinde zu erwehren? Wozu zu Lloth beten? Vor ihrem Schweigen oder danach?
Ihre Mutter war tot. Ihre Schwestern waren tot. Sie war nun Mutter Oberin ihres Hauses und damit Mutter Oberin von gar nichts, denn nichts war von ihrem Haus geblieben. Nur sie war noch übrig. Oder vielmehr der Schatten, zu dem sie geworden war. Wie durch ein Wunder hatte sie die Geschehnisse in Maerimydra überlebt und ihr war die Flucht geglückt. Sie hatte sich einer Gruppe Flüchtlinge angeschlossen. Als fünfte Tochter eines kleinen Hauses sollte sie nicht weiter auffallen und das war auch besser so. Denn sie vernahm durchaus, dass sich der Zorn der Ilythiiri nicht allein gegen die Angreifer richtete, sondern auch gegen die Priesterinnen, die die Stadt nicht hatten beschützen können. Anfangs hatte sie sich noch beherrschen müssen, nicht voller Zorn zu reagieren. Aber was hätte es ihr schon eingebracht? Es gab niemanden, der ihren Zorn durch Peitschenhiebe durchsetzen würde, der den Ketzern die Klinge in den Leib stoßen konnte. Und als sie schließlich erkannte, dass ihr Zorn nicht aufrichtig war, arrangierte sie sich damit und richtete ihn in entgegengesetzte Richtung: gegen Lloth selbst. Sie spürte zwar, als deren Schweigen endete, doch sie hatte mit der Dunklen Mutter gebrochen. Nie wieder würde sie ein Gebet an sie richten. Nie wieder.
Der fünften Tochter kam zugute, dass sie eine befähigte Kämpferin war, überaus geschickt und hinterlistig obendrein. Das sollte ihr das Überleben in denen Reihen jener sichern, die sie begleitete. Aus der ehemals größeren Flüchtlingsgruppe hatte sich ein besonders kampfstarker Teil rausgelöst, der sein Glück nun als fahrende Söldnerbande in die Hand nahm. Hier und da boten sie reisenden Händlern Schutz an und sollte ein solches Angebot abgelehnt werden, sorgten sie dafür, dass der Fehler daran erkannt wurde.
Nach dem Schweigen der Lloth und einigen dubiosen Kontakten verlegte sich die Truppe darauf, die Gewinnmargen ihrer Unterfangen nochmal zu erhöhen. Es drehte sich dabei um Namen, hauptsächlich von Händlern, aber nicht ausschließlich. Es sprang einiges dabei raus, die genannten Personen auf die ein oder andere Weise aus dem Verkehr zu ziehen. Die fünfte Tochter war selten in die Anbahnung solcher Geschäfte verwickelt, aber sie war nicht dumm und bald schon mutmaßte sie, dass es – neben der Tatsache, dass sie jemand tot sehen wollte - eine Parallele zwischen den Opfern existierte: sie waren allesamt entweder Angehörige namhafter Adelshäuser oder deren Kollaborateure.
So weit war es also gekommen. Sie mordete jene, die der Spinnenkönigin ergeben waren. Und… ihr gefiel es.
Der im Dunkel
Blingdenstein, 1371 Taliser Zeit
Schreie der Ersterbenden, der Hingeschlachteten. Schreie seiner Freunde. Schreie jener, die er liebte.
Der Pilzhändler, bei dem er vor wenigen Stunden die Zutaten für das Essen geholt hatte. Ihm fehlte das halbe Gesicht. Seine Körbe waren umgestürzt, der Boden besudelt mit seinem Blut, das zusammen mit den zerquetschten Pilzen einen Brei gebildet hatte. Fliehende waren darauf ausgeglitten, den Verfolgern zum Nutzen.
Der Geruch war bestialisch, vernebelte ihm die Sinne ebenso wie die grausige Kakophonie aus Schreien, Kreischen, Weinen, Wimmern. Er musste sich erbrechen. Er tat es im Laufen, besudelte sich dabei selbst. Er musste zum Markt gelangen. Alles andere zählte nicht.
Eine Gruppe kam ihm entgegengerannt. Der schieren Panik verfallen, drohte sie, ihn zu überrennen, doch der eigentliche Schrecken folgte ihnen. Mit einer Geistesgegenwart, die aus Instinkt geboren war, sprang er zur Seite und wälzte sich über den toten Pilzhändler hinweg, um still zu verharren, während er versuchte, einen Blick auf die Gesichter der Gnome zu erhaschen. War Idda dabei? Und hatte sie die Kleinen bei sich?
Er erkannte manche der Gesichter, auch wenn sie zu furchterfüllten Fratzen verzogen waren. Er kannte sie aus einer anderen Welt als dieser: fröhlich, traurig, streng, missbilligend, aufmerksam, ernst, freudig, gleichmütig. Doch diese Welt war tot.
Er duckte sich tiefer, um der Aufmerksamkeit der achtbeinigen Monstrosität zu entgehen, die die Gruppe jagte. Viel zu schnell. Viel zu schnell. So fokussiert darauf zu töten, zu schlachten, nach so vielen Leben gierend, dass ihr der tote Gnom, den er darstellte, entging. Er war nur einer und die, die rannten, animierten die Kreatur zu sehr.
Kaum dass sie ihn hinter sich gelassen hatte, sprang er auf, um seinen Weg fortzusetzen. Die Leichen auf der Straße ignorierte er. Ließ alle hinter sich. Den Wasserträger, die Kräuterkundige, den Steinschleifer, den Priester. Er wollte nur zu Idda… zu Idda und den Kleinen. Er setze über den Kadaver einer Svrifneblin hinweg, die von Spinnenweben auf den Boden genagelt worden war, bevor ein Spinnenbein ihren Leib durchbohrt hatte.
Seinen weit aufgerissenen Augen entrannen Tränen. Sein Herz indes war noch nicht bereit, der dunklen Befürchtung anheimzufallen, die malträtierend an die Tore seines Verstandes hämmerte, um Einlass zu begehren. Abermals Schreie hinter ihm, die schnell erstickten. Der Spinnendämon hatte die Fliehenden erreicht. Jetzt waren sie tot.
Er gelangte zum Marktplatz.
Salz brauchen wir.
Törichter Narr.
Er hatte das Salz vergessen.
Er erreichte den Marktplatz oder das, was davon übrig war. Das Treiben war nie sehr emsig gewesen. Es ging hier immer ruhig und gesittet zu. Man unterhielt sich, man handelte, ohne großes Schachern. Manchmal wurde der neuste Klatsch ausgetauscht, manchmal wurde gelacht, selten wurde laut gelacht. Nun würde hier nie wieder gelacht.
Idda. Er sah sie beim Salzhändler. Er erblickte sie, törichter Narr, der er war. Sie und die Kleinen. Diese Welt war tot. Seine Welt war nun tot.
Er wandte sich nicht um, weil er das Geräusch hörte. Er hatte sich nur abwenden wollen, um danach noch einmal hinzusehen, darauf hoffend, sie würden dann wieder stehen. Seine Familie würde dort sein und sich unterhalten, handeln, lachen… vielleicht. Er sollte nicht mehr dazu kommen, diese Enttäuschung zu erleben. Es traf ihn direkt am Kopf, an den Augen… blind taumelte er zurück, fiel. Das letzte Geräusch, was er hörte, war das verderbte Klackern des Spinnendämons, der sich umwandte. Irgendwo waren noch mehr Leben zu nehmen. Er hingegen würde tot werden wie seine Welt, überwältigt von Schmerz, versunken in Schmerz. Sein Hinterkopf schlug auf den Boden. Vorbei. Zum Glück.
Törichter Narr.
Der Händler und das Geschenk
„Zeigst du so deine Dankbarkeit, Zaphor?“
Die Stimme des Händlers war leis, ein Hauch der Enttäuschung lag darin. Doch war diese nur vorgeblich, nur ein wenig Theatralik als Einstimmung für das, was kommen würde. In der Mitte des Zimmers kniete ein Ilythiiri, seine Hände in Fesseln gelegt, der Blick starr zu Boden gerichtet, während sich der Händler hinter ihm auf und ab bewegte mit gemessenem, geruhsamem Schritt.
„Das Prinzip dieser Gemeinschaft scheint sich dir nicht eingeprägt zu haben. Und doch… doch, ich verstehe dich.“
Der Händler ging zum Tisch, auf dem ein Kissen lag. Und auf dem Kissen wiederum lag jenes Stück, das für all die Aufregung gesorgt hatte. Er selbst kannte es nur von Gerüchten, hatte es im Grunde für nicht mehr als einen Mythos gehalten, eine Blüte, die die Fantastereien der Zeit der Sorgen getrieben hatten. Und nun hatte ein Zufall oder vielleicht das Schicksal selbst das Collier in seinen Besitz gebracht und mit ihm den sagenhaften Edelstein, der als Auge des Sturms bekannt war. Der Karawanenwächter namens Zaphor hätte diese schicksalhafte Begebenheit beinahe abgewendet, doch wie es mit Fügungen so war: begünstigten sie eben noch den einen, bald schon den anderen. Der Händler griff das Collier mit beiden Händen, spürte das Gewicht und hob es hinauf, so dass er sich unmittelbar dem türkisfarbenen Stein gegenübersah, dessen Geschichte bis an den Anfang der Zeit selbst zurückreichte.
„Es ist außergewöhnlich“, hauchte der Händler. „Wer würde es nicht begehren? Wer würde ihm nicht erliegen und es für sich wollen?“
„Jabbuk, es war nicht meine Absicht…“, unternahm Zaphor einen Versuch, zu einer Rechtfertigung anzusetzen. Ein mächtiger Faustschlag traf seine Wange, ausgeführt von Zuram, der – je nach Auslegung – noch sein Vorgesetzter war. Diese ganze Geschichte hatte Zuram in besonderer Weise zugesetzt. Dass es einer seiner Sargtlin war, der einen derartigen Verrat begangen hatte, untergrub seine Autorität, rückte ihn in ein unvorteilhaftes Licht gegenüber seinem Herrn und gegenüber der ganzen Karawane. Natürlich hatte sich bereits herumgesprochen, dass einer der Karawanenwächter einen Diebstahl begangen hatte oder vielmehr eine „Vorenthaltung“, wie sie das bei der Karawane nannten.
Dabei führte der Händler kein hartes Regiment. Er bestand nicht auf einer alles durchdringenden Hierarchie, an deren Spitze er stehen wollte. Er hatte nicht einmal große Lust auf Verantwortung oder Macht. Ihn interessierte in erster Linie der Profit. Dummerweise waren die einträglichen Geschäfte, die er gezwungenermaßen jetzt verfolgte, an ein gewisses Gebaren gekoppelt und das bedeutete, dass er die paar Regeln, die es gab, auch durchsetzen musste. Und nun lag der Missetäter am Boden, ächzend vor Schmerz, zitternd vor Furcht.
„Nicht doch, Zuram, lass ihn sprechen“, meinte der Händler gleichmütig, legte das Collier wieder auf das samtene Kissen und griff sich einen Gegenstand, der danebenlag.
Zuram zerrte den bemitleidenswerten Zaphor wieder auf die Knie und gab dem Gefangenen einen – für Zurams Verhältnisse – fast schon zärtlichen Klapps auf den Hinterkopf als Aufforderung, dem Jabbuk zu antworten. So entfacht, überschlug sich Zaphor beinahe in seinen Erklärungen.
„Es ging alles so schnell! Wenn Ihr es nur gesehen hättet, Herr! Kaum dass wir den Gnom festgesetzt hatten und das Collier sichergestellt, tauchte der Drache auf! Gelryn und Bethym wurden von seinem Atem getroffen. Das Fleisch schmolz ihnen von den Knochen. Ich wurde zur Seite geschleudert. Zuletzt sah ich nur den Gnom. Danach wachte ich hier auf… ich wusste nicht, dass ich die Kette bei mir trug!“
Zaphor bildete sich den Drachenangriff nicht ein. Von den anderen Karawanenwächtern war kaum etwas übriggeblieben, aber genug, um Mutmaßungen darüber zu treffen, was sie erwischt hatte. Unklar blieb, warum Zaphor noch am Leben war und der Gnom vollkommen unversehrt – abseits davon, dass er offenkundig blind war. Der Umstand, ein halbes Dutzend Wächter und ein Dutzend Arbeiter verloren zu haben, wäre an sich ein Desaster gewesen, aber Malyks Geschenk war mehr als eine angemessene Entschädigung. Eigentlich hatten sie gar nicht in die Nähe von Ched Nasad zurückkehren wollen. Die Gegend war viel zu gefährlich und es war davon auszugehen, dass die Trümmer der Stadt bereits geplündert worden waren, woran der Händler einen gewissen Anteil hatte. Aber nachdem sie auf halbem Weg nach Mantol Derith erfahren hatten, dass der Ort vorläufig dicht gemacht worden war, hatte der Händler die Karawane kehrtmachen lassen und Eryndlyn als neues Ziel erkoren. Da konnten sie, nachdem er von weiteren Wertgegenständen gehört hatte, die sich an unmöglichsten Orten Ched Nasads befanden, genauso gut den kleinen Umweg dahin in Kauf nehmen. Tatsächlich war es den Angehörigen der Karawane gelungen, einiges an Beute zu machen. Die Bergungsmission, der Zaphor angehört hatte, sollte indes die letzte in den Ruinen der Stadt sein, bevor es an die Weiterreise gegangen wäre. Und dann tauchte der blaue Drache auf, der unter dem Namen Krashos bekannt war und sich offenbar in der Gegend eingenistet hatte.
„Jabbuk“, flehte Zaphor, „was sollte ich mit der Kette denn tun? Ich bin nur ein Sargtlin! Ich kenne doch niemanden!“
Der Händler musste unwillkürlich lachen – ein wahrhaft seltenes Ereignis –, umfasste den Gegenstand in seiner Hand fester. Leicht spöttelnden Tons gen Zuram, dem eine ungesunde Mischung aus Ungeduld und Zorn ins Gesicht geschrieben stand, erwiderte er:
„Hört, hört! Der Mann hat Sinn für’s Geschäft. Fürwahr… was hätte er tun sollen? Der arme Sargtlin mit diesem unbezahlbaren Stück.“ Die Hand des Händlers grub sich tief in das zerzauste Haar des gefangenen Wächters und riss diesen zurück. Im selben Moment legte er die Klinge des Dolches an Zaphors Kehle. Der Händler beugte sich hinab, brachte seinen Mund nah Zaphors Ohr.
„Dies ist ein magischer Dolch. Du selbst hast ihn vor einigen Monaten aus den Ruinen Ched Nasads geborgen. Ein beachtliches Stück, offenbar aus dem Fundus von Matronin Talabrina Claddath.“
Zaphor war stocksteif, atmete nicht mehr. Nun, mutmaßlich mochte das schon als Einstimmung auf das Kommende dienen, wenn er nie wieder atmen würde.
„Er gehört dir“, meinte der Händler dann leichthin und nahm den Dolch von Zaphors Hals. „Zuram, löst seine Fesseln.“
Nachdem der Anführer der Sargtlin zwar ohne Fragen, aber mit deutlichem Unverständnis der Aufforderung nachgekommen war und Zaphor unter mehrfacher Beteuerung seiner Dankbarkeit das Zelt des Händlers mitsamt dem wertvollen Dolch verlassen hatte, zeigte sich der Händler abermals gnädig, indem er Zuram eine Erklärung gab:
„Wie viel Gold habe ich in diesen Kerl gesteckt? Er ist erfahren, hat seinen Nutzen mehrfach unter Beweis gestellt. Wir werden schon eine Begründung finden, warum wir ihn laufen ließen. Der nächste wird umso härter bestraft.“
Zuram war mit dieser Darlegung offenbar nicht zufrieden. Andererseits: wenn wirklich die Chance bestand, durch Zaphors Überleben den Ruf der Karawanenwächter unbeschädigt zu halten, sollte es eben so sein. Indes der Händler wieder zum Tisch ging. Seine Hand strich über das Collier, über die Glieder der schweren Electrum-Ketten. Sein Zeigefinger fuhr über einen der tropfenförmigen Turmaline.
„Und der Gnom? Sollen wir ihn erledigen?“, fragte Zuram mit seiner tiefen, spröden Stimme.
„Nein, belasst ihn in Ketten und in seinem Käfig. Stellt Männer für ihn ab. Sie sollen ihn rund um die Uhr bewachen. Der Drache wollte Malyks Geschenk und für gewöhnlich bekommt ein Drache, was er will.“
Und dann war der Händler allein. Allein mit dem Collier. Fast zaghaft und ein wenig ehrfurchtsvoll berührte er den gigantischen Edelstein und spürte das leichte Kribbeln an seinen Fingerkuppen. Die Wege des Schicksals waren seltsam. Sie hatten ihm ein Geschenk bereitet, obgleich es nur ein flüchtiges sein würde. Denn er hatte nicht vor, es zu behalten. Er würde es investieren, wenn die Zeit gekommen war.
Und… wenn der Preis stimmte.
Der Händler und die Priesterin
„Was sagt Ihr dazu?“, fragte der Händler in gewohnt unaufgeregtem Tonfall, während sein Blick die Kaverne durchstreifte bis hin zu jener ungewöhnlichen Felsformation, derentwegen so ein Aufhebens entstanden war. Eines, das ihm persönlich zuwider war, denn Aufhebens bedeutete meist eher Bremsen statt Beschleunigen. Er hatte selbst eine ganze Weile gebraucht, bevor er verstanden hatte, was die Arbeiter meinten und auch jetzt noch konnte er aufgrund der schieren Größe des Gebildes nur erahnen, was die Konturen des harten Steins dort bildeten. Zweifellos war es ein Zufall, eine Laune der Natur, des Gesteins. Für ihn stand das fest, aber für den Vorarbeiter war es ein Zeichen gewesen. Und wenngleich der Händler durchaus gefürchtet wurde und ihm ungern schlechte Nachrichten überbracht wurden, gab es Dinge, die noch mehr gefürchtet wurden.
„Lolth‘ erweist uns ihre Gunst“, sprach die Frau neben ihm in genau jener Mischung aus beglückter Fassungslosigkeit und religiösem Eifer, die der Händler befürchtet hatte. Die Augen der Priesterin leuchteten regelrecht. Kurz ärgerte er sich, dass er die Spinnenweben nicht hatte still und heimlich entfernen lassen, da jene doch den Effekt noch verstärkten. Er schwieg sich aus, während sich die Frau ihrer Begeisterung hingab und gerade eine Art Epiphanie erlebte, beinahe lustvoll. Sie konnte den Blick nicht von dem steinernen Konstrukt abwenden, während sie beiläufig sprach: „Ihr tatet gut daran zu mir zu kommen. Wer weiß noch davon?“
„Ein halbes Dutzend Arbeiter. Sie kamen direkt zu mir“, erwiderte er und versuchte, sich nochmal zu konzentrieren. Er kniff die Augen ein bisschen zusammen, in der Hoffnung dadurch vielleicht die Besonderheit zu erkennen, die für soviel Furore sorgte. Doch es blieb alles beim Alten. Ja, es war ein wenig sonderbar, aber selbst die Yathrin musste doch erkennen, dass es ein Zufall war. Aber dem stand wohl eine gehörige Portion Fanatismus im Weg.
„Niemand darf davon erfahren. Ich allein werde die Höhle von nun an betreten.“ Da der Händler nicht auf ihre Ansage reagierte, verschärfte sie ihren Tonfall. „Versteht Ihr mich, Tenszar?“
Das war gewiss ein schlechter Zeitpunkt, um der Yathrin zu widersprechen. Sicher, jeder Zeitpunkt war dafür ungeeignet, aber in der feinen Abwägung der unpassendsten Momente schien dieser hier weit vorn mitzuspielen. Aber so einfach wollte es der Händler nicht auf sich beruhen lassen. Er hatte die Szenarien durchkalkuliert und durchaus schon in Betracht gezogen, dass die Priesterin derart… euphorisch und wenig diplomatisch reagieren könnte.
„Ich werde mich des Schweigens der Arbeiter versichern. Gleichwohl braucht es eine Kompensation. Wir hatten bereits einige Aufwendungen hier, um die Höhle gangbar zu machen. Wir müssen nun an anderer Stelle neu anfangen.“
Die Yathrin schnaufte verächtlich. Wie konnte dieser Wurm es wagen, im Angesicht dieser glorreichen Entdeckung nur an seine gottlosen Pläne zu denken, sein Geschäft und sein Fortkommen? Aber es gab Gründe, diesen Wicht nicht auf der Stelle zu zerschmettern. Eine Schuld, die Haus Teh’Kinrellz, auf sich geladen hatte. Ein Handel, der in den Ruinen Ched Nasads entstanden und recht einträglich für das Haus der Priesterin gewesen war. Dass sie allein indes den Preis zu zahlen hatte, war freilich eine Sache, die ihr mehr als bitter aufstieß. Nicht gegen die Karawane zu predigen und sie und das Agieren des Händlers politisch zu dulden, ließ sich zähneknirschend bewerkstelligen, obwohl die schiere Anzahl an gewiss nicht Lolth-ergebenen Kreaturen in Tenszars Gefolgschaft sie anwiderte. Aber wie hatte dieser Mistkerl es nur wagen können, Malyks Geschenk nicht nur ihrer Familie und schließlich ihr selbst vorzuenthalten, sondern es an die erstbeste Schlampe zu geben, die ihm in Barrighym über den Weg gelaufen war? Wie hatte er Shry Avithoul das Collier geben können? Dieser verdammte Bastard…
Und nun versuchte er also auch noch, sie zu erpressen und ja, er würde damit durchkommen. Denn dieses Geheimnis war es wert, dass sie ihren Stolz runterschluckte. Wenn dann ihr Werk vollendet war, würde sie sich seiner schon annehmen.
„Gewiss, Tenszar, Ihr werdet für alles entschädigt werden", säuselt die Yathallar jovial, nicht ohne ein siegesgewisses Lächeln auf den Lippen.
Die fünfte Tochter im Dunkel
Aus Verzweiflung geborener Zorn loderte in ihr. Sie ballte ihre Faust und schlug sie gegen den blanken Stein der kleinen Kaverne, in die sie sich verirrt hatte. Der Schmerz betäubte ihre Sinne für einen Augenblick, aber das reichte nicht. Sie schlug erneut gegen die Wand. Dann schrie sie, ignorierend, dass dies in den gefahrvollen Gängen des Unterreichs einem Todesurteil gleichkommen konnte. Sie tobte, wütete, zermarterte sich. Früher einmal hätte sie gebetet, Kraft aus dem Gedanken gezogen, dass die Spinnenkönigin ihr die Macht geben würde, zu obsiegen. Doch für die fünfte Tochter hatte Lolth nie aufgehört zu schweigen.
Schließlich sackte sie erschöpft am Fels hinab, wimmernd, zitternd. Momente der Kontemplation stellten sich ein. Wie war sie hierher gelangt? Warum? Was oder wem jagte sie so unermüdlich nach? Und wie lange war sie bereits auf dieser aussichtslosen Mission unterwegs? Eine Mission, die nur einen Antrieb kannte: unerschütterlicher Hass.
Sie besann sich. Eigentlich hatte sie nur die Chance nutzen wollen, einen Blick auf den Lolth-Klerus vor Ort zu erheischen. Barrighym hieß das Nest, bei dem die Karawane gestrandet war. Sich dem Händler anzuschließen, hatte sich für sie und ihren Trupp als einträgliches Geschäft erweisen, gleichwohl die eher mörderisch veranlagten Spießgesellen nicht auf ihre Kosten kamen. Manche hatten die Söldnertruppe verlassen oder wurden dazu genötigt. Sie war geblieben. Der Händler imponierte ihr auf seltsame Weise, gleichzeitig ließ er sie schaudern. Unmöglich, seine Entscheidungen und Gedankengänge nachzuvollziehen. Einerseits wirkte er erratisch, andererseits schien alles, was er tat, planvoll und durchdacht zu sein. Zudem führte er eine Karawane, in der übermäßige Frömmelei nicht erwünscht zu sein schien. Zu unterschiedlich waren ihre Mitglieder. Kein Platz also für hegemonistische Ansprüche einer Glaubensrichtung oder Religionsgemeinschaft. In gewisser Weise genoss sie das Leben in der Karawane. Vielleicht fühlte sie sich hier zum ersten Mal frei, soweit es der manische Drang nach Genugtuung zuließ.
Umso skeptischer stand sie schließlich Barrighym gegenüber. Haus Avithoul, ein ganzes Konvolut an Yathrinen, sogar eine Yathallar. Die fünfte Tochter hatte keinerlei Bedarf, sich unter dem Regime solcher Fanatikerinnen wiederzufinden. Andererseits: was sollte sie dort, wo es keine potenziellen Opfer für ihre Klinge gab? Als die Karawane immer länger vor Barrighym verweilte, wurde ihr klar, dass der Händler größere Ziele an diesem Ort verfolgte und wohl gekommen war, um zu bleiben.
Und dann kam der Zyklus der Zeremonie. Die Yathallar hatte in den Lolth-Tempel geladen. Eine günstige Gelegenheit zu taxieren, mit wem man es zutun hatte. Was dann geschehen war, sprengte jede Vorstellung. Die Yathallar wollte der Spinnenkönigin ein Schmuckstück opfern. Das war nicht unbedingt außergewöhnlich – bis zu jenem Moment, da sie das Collier präsentierte. Ein unglaubliches Werk von ausnehmender Schönheit, geradezu magisch – Malyks Geschenk. Die fünfte Tochter hatte nicht viel übrig für mondäne Objekte. Wenig Platz war in ihr geblieben für angenehmes Empfinden, doch in jenem Moment erschien es ihr seltsam frevelhaft, ein Kleinod wie dieses der Zerstörung anheimfallen zu lassen. Doch was frevelhaft war, interpretierten diese Närrinnen, die Lolth folgten, – freilich – ganz anders.
Das Schicksal selbst schien deren Sicht nicht zu teilen, denn als die Yathallar Malyks Geschenk dem Feuer übereignen wollte, kam es zu einer Explosion. Einer der Yathrinen im Publikum wurde von einem Splitter des berstenden Kohlenbeckens der Hals aufgeschlitzt, die Yathallar von mehreren messerscharfen Teilen geradezu zerfetzt. Während alles um sie herum in Panik verfiel und tödliche Projektile an ihr vorbeischossen, stand die fünfte Tochter fassungslos da. Sie musste sich beherrschen, nicht lauthals loszulachen. Nur schwer konnte sie sich vom Anblick der um ihr Leben ringenden Yathallar und dem Wohlgefühl, das jener bei ihr bewirkte, lösen. Doch wenn es das Schmuckstück war, das über solche Macht verfügte, dann wäre der richtige Augenblick gekommen, um es im allgemeinen Chaos an sich zu bringen. Allein: sie konnte es nicht finden. Zumindest nicht in der Kürze der Zeit, ohne sich verdächtig zu machen. Halb benommen verließ sie den Tempel. Draußen brach endgültig das Chaos aus, als riesige Larven aus Ritzen, die sich im Boden auftaten, in den Handelshof strömten. Kampfgeräusche, Schreie überall, das Grollen des Gesteins – alles verschwamm zu einer Kakophonie, die die fünfte Tochter nur gedämpft wahrnahm. Zu sehr darauf bedacht, das Gesehene zu verarbeiten, die Möglichkeiten zu bewerten, bewegte sie sich über das Schlachtfeld, zu dem der Marktplatz geworden war, ohne selbst auf Widerstand zu stoßen.
Die folgenden Zyklen spielte sie die Ereignisse wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge durch, ohne sich einen rechten Reim darauf machen zu können. In ihrer grüblerischen Zurückgezogenheit hätte sie beinahe nicht mitbekommen, dass der Gnomen-Gefangene entkommen war; dieser seltsame, blinde Svirfneblin, den die Karawane bereits mit sich führte, bevor die fünfte Tochter dazugestoßen war. In der Karawane war der Gnom ein Tabuthema. Es wurde vermieden, über ihn zu sprechen. Spekulationen, warum der Händler so viel Aufwand auf sich nahm, die niedere Kreatur durch das halbe Unterreich mit sich zu schleifen, verbat man sich. Auch weshalb ein blinder Gnom unter ständiger Bewachung gehalten wurde, eine Aufgabe, die jedem der Karawanenwächter, und waren es noch so gestandene Sargtlin, nicht behagte. Ausgerechnet an jenem Zyklus, als die Zeremonie der Yathallar ein so jähes wie spektakuläres Ende, war der Gnom entkommen. Auf welche Weise er sich hatte befreien können, schien schleierhaft. Von der Käfigtür jedenfalls waren nur rostige Brösel übriggeblieben.
Und hatte die fünfte Tochter nicht auch einen Svirfneblin im Tempel der Lolth gesehen, der kurz nach der Explosion – unbeachtet von der panischen Menge – herumgehuscht war? Das alles konnte kein Zufall sein. So zumindest offenbarte es sich der fünften Tochter. Und damit fand ihre Suche ihren Anfang. Die Suche nach dem blinden Svirfneblin. Aber all die Monate? Nein, dafür war sie selbst in ihrem erbitterten Wunsch, die Macht, der sie gewahr geworden war, gegen weitere Anhänger der Lolth zu richten, zu rational. Wäre da nicht das Flüstern gewesen. Oder mehr ein Rauschen, ein Klacken. Mal lauter, mal leiser. Mal klang es fast wie Worte, mal war es nur dumpfes Geräusch. Immer wenn sie aufgeben wollte, wurde es deutlicher. Es trieb sie voran. Tiefer, immer tiefer in die Eingeweide Torils, bis sie kaum noch aß, kaum noch trank. Immerfort gefangen zwischen Resignation und Hoffnung, immer näher daran, dem Wahnsinn anheimzufallen, wenn dies nicht schon längst geschehen war. Jagte sie ein Hirngespinst, eine Illusion, die ihrem eigenen Fanatismus entsprang?
Gleichmäßig bewegte sich ihr Oberkörper vor und zurück. Ihr Atem ging stoßweise. Am Ende ihrer Kräfte, mit blutigen Händen wurde ihr gewahr, dass sie am Endpunkt ihrer aussichtslosen Reise angelangt war. Sie erinnerte sich an ihre Familie, an die Jahre der gnadenlosen Ausbildung, an den Untergang Maerimydras, Tod und Verderben. Hoffnungslosigkeit. Sie war besiegt. Sie war die letzte ihres Hauses, das nun hier in den Tiefen, so fern der Heimat, sein endgültiges Ende finden würde. Triumphierte die Spinnenkönigin nun? War es dieses Ende, das sie für das Haus begehrte? Vergnügte sie sich beim Gedanken, ihre ehemalige Priesterin so gebrochen zu sehen?
Die fünfte Tochter hatte nicht mehr die Kraft, sich dieser Vorstellungen zu erwehren. Einstmals hätte es sie weitergetrieben, der Spinnenkönigin diesen Triumph zu verwehren. Aber das war nun vorbei. Sie legte sich auf den Boden, mit angewinkelten Beinen, die Arme verschlungen und an sich pressend, Wange und Ohr in Berührung mit dem Stein. Willkommener Tod. Das endgültige Schweigen.
Nicht gewährt. Eine Stimme aus dem Fleisch der Torils:
"Kleines Wesen, ganz allein. Es will sterben. Doch hassen tut es noch. Töten kann es noch. Steh auf, kleines Wesen. Lass mich dich führen…"
Die Gezeichnete
So war denn eingetreten, was sie lange Zeit hatte vermeiden wollen und auch proaktiv vermieden hatte. Gerüchte, über das, was nicht ging, lanciert von Kundschaftern, deren Augen statt der weiten Tunnel die Enge eines Münzsäckleins stärker betörte. Der Händler war willfährig. So willfährig, dass sie zweifelte, ob er im Grund genommen nicht dasselbe wollte wie sie – nur aus anderen Gründen, verstand sich. Sie wollte möglichst weit weg von Menzoberranzan, Eryndlyn und all diesen anderen Metropolen der Drow. Sshamath hätte sie in gewisser Weise gereizt, aber nicht so sehr, dass es ihr als wirkliche Option erschien. Am Ende waren nur zwei Möglichkeiten übriggeblieben: Szith Morcane oder Barrighym. Tatsächlich war der Händler, der mittlerweile Barrighym fest ins Auge gefasst hatte, durchaus angetan, als er die Nachrichten über den (nun ehemaligen) Außenposten von Maerimydra erhielt. Er schien die ökonomischere Wahl und bei Widerwehr hätte es in etwa einen Gleichstand der Kräfte gegeben. Für die Gezeichnete war die Lage Szith Morcanes aus einigen anderen Gründen interessant und sie hielt selbst dann an dem Gedanken fest, nachdem sie gezwungenermaßen Sschirndylryn hinter sich ließen, nach Norden abzweigten und die ersten Gerüchte über die Situation in Szith Morcane vernahmen. Kiaransalee-Kultisten, die Haus Morcane offenbar vernichtet hatten, dazu Abenteurer, angeheuert in Dolchtal, um den Überfällen der Drow ein Ende zu setzen. Was der Gezeichneten als gefahrvolle, aber dennoch vielversprechende Situation erschien, ließ den Händler zaudern. Es entstand ein bitter geführter Konflikt, der beinahe zum Ende der gemeinsamen Bestrebungen geführt hätte, wobei die Art des Endes recht blutig hätte ausfallen können.
Sie hatte den Händler schon oft umgebracht. Tausendfach. In den ersten Jahren noch mit aus Hass geborener Leidenschaft, später mit aus Überdrüssigkeit geborener Leidenschaftslosigkeit. Stumpfe Gegenstände, Treppensturze, Dolche spielten eine Rolle, Gift natürlich, schiere Gedankenkraft, schließlich zersetzende Magie, wohlfeil platzierte Worte, Intrige. Doch je länger die Patt-Situation, der sie sich gemeinschaftlich überantwortet hatten, anhielt, desto langweiliger waren diese Gedankenspiele geworden. Und letztlich hatte sie festgestellt, dass sie ihn nur töten wollte, weil sie das schon immer gewollt hatte und nicht, weil es irgendeinen Sinn ergab. Diese Erkenntnis war einer der selten gewordenen Momente, in denen sie sich töricht vorkam. Kurz noch richtete sich der heimliche Zorn gegen den Händler, der sie zu solchen Überlegungen genötigt hatte, aber schlussendlich versiegte er. Die tosenden Fluten ihres Hasses wurden erst zu einem plätschernden Bächlein, dann zu einem Rinnsal.
Bis es um Szith Morcane ging und der entzweienden Frage, ob dies der Ort war, an dem sie trotz aller Unwägbarkeiten ihr Glück versuchen oder ob sie umkehren und Barrighym anstreben sollten. Interessanterweise waren alle nachfolgenden Mordgedanken, die auf die Daseinsbeendigung des Händlers abzielten, zutiefst rational. Es ging nicht darum, sein Leben auszulöschen, weil er jovial, ignorant oder ein Sklaveneigner gewesen war, der sie einst missbräuchlich behandeln ließ, um sie dann in eine noch missbräuchlichere Umgebung weiterzuverkaufen. Es ging allein um Effizienz. Aber natürlich war es nicht effizient, den Händler zu töten und damit zu riskieren, alle anderen Drow der Karawane ebenfalls zu meucheln. In der Konsequenz hätte dies bedeutet, in viel kleinerer Zahl durch das Unterreich zu wandern und schließlich den Weg zur Oberfläche anzutreten, wogegen sich wiederum ein Gutteil der Leute der Gezeichneten gewehrt hätten.
Diese Gedankengänge lösten ein tiefes Unbehagen in ihr aus, denn es führte ihr vor Augen, was kein Geheimnis, aber eine Tatsache war, die sie vermied, wie die Teufel das Weihwasser: der Händler und sie teilten sich die Macht; sie reisten in einer Kutsche, was mithin eine Demütigung für ihn sein musste. Aber wenn es um die wirklich wichtigen Entscheidungen ging, hatte sie keine Handhabe. Und er wusste es. Sie waren im Unterreich und das Unterreich war seine Heimat. Wo immer er war, wo immer er sie hinführte, war er im Vorteil und wer im Vorteil ist, der beherrscht die Situation. Und so beherrschte er sie. Nach all den Jahren, trotz allem, womit sie ihn schikanierte und seine Autorität zu ihren Gunsten untergrub, behielt er die Oberhand, ohne etwas dafür tun zu müssen. Einfach nur, indem er Drow, sie Mensch und dies das Unterreich war.
Mehr noch: statt die Fakten klar zu benennen und die Fortsetzung der Reise nach Barrighym zu forcieren, ließ er dem „Konflikt“ unnötig viel Raum. Er ließ sich sogar dazu hinab, Diskussionsrunden zu führen, in denen Flüchtlinge aus Maerimydra zu Wort kamen, die in allen Einzelheiten den Wahnwitz der Kiaransalee-Anhänger schildern konnten. Reisende durften ausführlich von der Situation in Szith Morcane berichten, während der Händler durch seine Verzögerungstaktik suggerierte, dass er wirklich zu gern dem Wunsch der Gezeichneten nachgekommen und in die Stadt aufgebrochen wäre. Was für Unruhe unter den Drow sorgte, schürte wiederum den Zweifel bei den Nicht-Drow. Die Gezeichnete konnte nicht mehr argumentieren. Sie hatte keine Handhabe und schließlich war es nur noch der Stolz, der sie davor zurückhielt, den Händler zu bitten, endlich weiterzureisen und Barrighym anzusteuern. Doch der Händler verharrte. Er verharrte, denn er wusste – anders konnte es sich die Gezeichnete nicht erklären – dass er ihr noch einen übleren Streich versetzen konnte, eine finale Demütigung.
Auch jene kam in Form eines Boten: Szith Morcane war an die Feuerriesen Maerimydras gefallen, Teile der Stadt dem Erdboden gleichgemacht, viele Drow tot oder vertrieben. Die Gezeichnete würde nie vergessen, wie der Händler die Nachricht im Beisein der halben Karawane entgegennahm. Mit gedankenschwerem, düsterem Blick hatte er die Augen niedergeschlagen und nach einer gefühlten Ewigkeit tonlos erklärt, dass man am nächsten Zyklus nach Barrighym aufbrechen würde. Er hätte die Gezeichnete ansehen, ihr seine Missbilligung und die der Karawane öffentlich zuteilwerden lassen können, doch das war nicht nötig. Der Schaden an ihr war bereits angerichtet.
Lag es in seiner Natur oder war das die Rache für Ched Nasad, als sie ihm kaum eine Wahl gelassen hatte, als gemeinsame Sache zu machen oder von den Armbrustbolzen ihrer Leute durchbohrt zu werden? Wie auch immer: es war deutlich geworden, dass er diese Karawane leitete, selbst die Nicht-Drow kamen nicht umhin, seine Befähigung anzuerkennen und ihn damit als den wahren Anführer der Karawane zu akzeptieren. Allein dies ermöglichte ihm, seine ausdauernde Charade vor den Toren Barrighyms abzuziehen und dort auszuharren, ohne dass ein klares Ziel in Aussicht stand. Mehr noch: je mehr die Gezeichnete versuchte, den Stillstand zu durchbrechen und sich mit „ihren“ Leuten zu verschwören, desto stärker stieß sie auf Ablehnung. Natürlich nie deutlich geäußert. Das hätte keiner gewagt. Aber dennoch war sie da, die Isolation.
Dann kam es zum – man konnte es nicht anders beschreiben – Kataklysmus Barrighyms. Die Gezeichnete war keine Zeugin der Ereignisse und sie kam sich albern vor, als sie die Schilderungen des Geschehenen vernahm und als erstes daran dachte, wie der Händler das geschafft hatte. Aber als dann nach kurzer Zeit schon etliche Magier auftauchten, um Barrighym ein neues, dem Händler scheinbar gefälliges Aussehen zu verleihen, konnte sie das nicht als Zufall abtun. Zudem war der Gnom verschwunden. Dieser verdammte Gnom. Das einzige Wesen überhaupt, das der Händler zu fürchten schien. Zumindest genug, um es rund um die Uhr bewachen zu lassen, was niemand nachvollziehen konnte.
Und nun war die Karawane vollständig in Barrighym integriert. Die Leute des Händlers, ihre Leute - und sie? Sie wusste nicht, was sie hier sollte. Das war es, was sie hatte vermeiden wollen: ihre Zeit in einer – zugegebenermaßen liberalen - Drow-Ansiedlung zu fristen, mit einem Drow-Haus, dem Händler und ohne Aufgaben außer denen, die ihr gegeben wurden. Für eine gewisse Zeit hatte sie so etwas wie Macht besessen und nun fristete sie ein unerquickliches Dasein mit unbestimmtem Ausgang.
Lisfar, möglicherweise? Die Stadt war vielleicht eine Option für einen Neunanfang und sei es nur, weil sie einen Hafen besaß. Die Vorstellung, an die Oberfläche zurückzukehren, löste in ihr etwas aus, das sie so seit Jahren nicht mehr empfunden hatte: eine essenzielle, existenzielle Furcht. Allein die Vorstellung davon, gegen das gleißende Licht der Sonne anblinzeln zu müssen, schreckte sie, als würden jene Strahlen sie vollkommen entblößen, ihren Leib, ihre Seele, ihre Gedanken. Die Dunkelheit war ihre Heimstatt, die Finsternis ihr Schutz, der Schatten ihr Mantel. Doch wollte sie mehr als nur existieren. Sie hatte Ambition. Sie wusste, dass sie für höheres bestimmt war. Einen Dienst, den es zu erbringen galt.
Wochen- und monatelang grübelte sie. Versuchte sich in Kontemplation. Schmiedete Pläne. Verwarf sie. Schmiedete neue Pläne. Es war ein Gerücht, das sie Hoffnung schöpfen ließ. Zwangsläufig dachte sie daran, warum Szith Morcane das Ziel ihrer Reise hätte werden sollen. Wessen Nähe sie hoffte, dort zu finden und sei es auch 200 Meilen weit entfernt gewesen. Aber die Geschehnisse in Sembia zeigten, dass es andere Möglichkeiten gab. Offenbar stand Faerûn an einem historischen Wendepunkt. Was vergangen schien, würde wiederentstehen. Ein Neuanfang gewissermaßen. Ein Neuanfang, wie sie einen für sich wollte.
Jene, die ein Sklavenmal der Drow trug, die Gezeichnete. Die Sklavin, die sich befreit hatte. Die Frau, die Macht gekostet hatte. Die Dienerin, die den Segen empfangen durfte. Sie würde das Errungene und das Geschenkte nicht leichtfertig vergeben, indem sie sich weiterhin zur Marionette machen ließ. Sie hatte noch eine Rolle zu spielen in einem Konflikt, der seit Anbeginn der Zeit tobte. Sie war die Karte, die das Schicksal gezogen hatte. Zeit zu spielen.
Die Inquisitorin
Gerechtigkeit war eine Art moralisches Konzept, ähnlich Normen und Werten, das vor allem an der Oberfläche bekannt war. Hier in der Heimat der Inquisitorin, konkret der Kultur der Ilythiiri, gab es keine Gerechtigkeit, nicht mal (bindende) Gesetze im Sinne verschriftlichter Regularien, auf die sich im Falle von Streitigkeiten berufen werden konnte. Es galt der Wille der Spinnenkönigin, der in der Repräsentanz durch die von ihr erwählten Priesterinnen Ausdruck fand. Wo keine Priesterin unmittelbar urteilen und richten konnte, galten statt Gesetzen Gesetzmäßigkeiten, die sich über die Jahrhunderte als inhärenter Bestandteil der dunkelelfischen Gesellschaft herausgebildet und etabliert hatten, etwa dass der Stärkere oder Gerissenere über den in diesen Hinsichten Schwächeren stand und damit – im Umfang des Möglichen – obsiegen, sich bemächtigen oder herrschen durfte, ohne dass ihn davon etwas abhalten konnte außer eine noch stärkere oder gerissenere Person mit entsprechender Ambition. Dort wo verschriftlichtes Recht existierte und das Handeln einer Person in Widerspruch dazu trat, bestand eine Verfehlung nicht in der Tat, sondern nur dann, wenn die Person erwischt und bestraft wurde, da sie sich damit als schwach erwiesen hatte. Insofern war die maßgebliche Verfehlung, die sich ein Drow leisten konnte, Schwäche. So wie dies für Individuen galt, galt es für Häuser.
Gerechtigkeit, soweit sich die Inquisitorin diesen Begriff verständlich hatte machen können, hatte eine ausgleichende Funktionalität, die darauf abzielte, wahlweise den Schwächeren zu überhöhen oder den Stärkeren auf das Niveau des Schwächeren niederzudrücken. Möglich machte das ein gesellschaftlicher Konsens, der Teil eines normativen Unterbaus war, der wiederum eine Facette eines politischen Systems darstellte. Zur Durchsetzung von Gerechtigkeit wurde anstelle des Primats des Stärkeren eine Mehrheit der Schwächeren gesetzt, insofern ein Prinzip der „Überzahl“, das letztlich in jeder Gesellschaft, egal ob oben oder unten, bekannt war und das zeitweise auch die Ilythiiri nutzten, um ihre Interessen durchzusetzen. Allerdings – und das war der entscheidende Punkt – war jedes Individuum einer so ent- und/oder bestehenden Zweckgemeinschaft per se in der Pflicht stark zu sein, um die Gruppe nicht zu schwächen, was in „gerechten“ Gesellschaften im besten Falle nur eine untergeordnete Rolle spielte. Was exekutive Organe betraf, also jene, die das auf Basis von Gerechtigkeit postulierte Recht erwirkten, so bildeten jene die stärkeren Elemente der Gesellschaft, die wiederum dadurch geschwächt wurden, dass sie die Schwächeren beschützen mussten und sich dadurch nicht entfalten konnten.
Wie sie es auch drehte und wendete, konnte die Inquisitorin im Prinzip der Gerechtigkeit nur etwas sehen, dass dem Wesen der Ilythiiri antagonistisch entgegenstand. Es mochte bis zu einem gewissen Punkt logisch erscheinen für niedere, weichliche Wesen, aber es würde auf Dauer nie zu Größe führen, weder individueller Natur noch der einer Gesellschaft. Gerechtigkeit konservierte Schwäche. Sie hatte im Unterreich nichts verloren.
Und doch war der Inquisitorin der Begriff der Gerechtigkeit in den Sinn gekommen mitsamt all jenen Implikationen, als sie zum ersten Mal vom Ableben Alezêas gehört hatte. Sie legte den Kopf in den Nacken, dann zur Seite. Es knackte. Ein Seufzer verließ ihre Lippen, während sie noch einige Momente so verharrte. Dann heftete sie den Blick wieder auf die Unterlagen und las erneut den oben aufliegenden Brief. Wissend, dass er ihr keine neuen Erkenntnisse mehr liefern konnte, gestattete sie sich so einen Moment der Verzögerung als Ausdruck des stummen Triumphs. Denn gewiss: es mangelte ihr nicht an Eifer in der Sache. Sie wäre bereits vor Monaten aufgebrochen, um den Geschehnissen rund um den unrühmlichen Tod der Yathallar Alezêa auf den Grund zu gehen, doch hatte es widerstreitende Ansichten darüber gegeben, ob es den Aufwand wert war, Ermittlungen zu übernehmen. Manch einer im Haus Teh’kinrellz vertrat die Ansicht, Alezêa einfach zu vergessen. Lolth hätte ihr offenbar die Gunst entzogen. Jede weitere Beschäftigung mit ihr wäre einer Schwächung des Hauses gleichgekommen. Sie zu ignorieren, schien die bessere Option. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Die Inquisitorin hatte sich mit dieser Sichtweise nicht anfreunden können. Eine Priesterin der Spinnenkönigin war tot, die Umstände ihres Todes schleierhaft, geradezu abstrus. Allein aus der Tatsache, dass Alezêa umgekommen war, zu schlussfolgern, dass sie bei der Spinnenkönigin verspielt hatte, konnte die Inquisitorin nicht gelten lassen. Der unnatürliche Tod, auch von Angehörigen des Klerus, war nicht derart ungewöhnlich, aber war es wirklich der Wille der Lolth, eine ihrer Dienerinnen so einer Demütigung anheimfallen zu lassen, zerfetzt während einer Zeremonie vor aller Öffentlichkeit? Und was hatte es mit dem Artefakt auf sich, Malyks Geschenk?
Die Antworten auf diese und weitere Fragen würde sie nicht hier in der Nähe Ched Nasads finden. Und das musste sie auch nicht. Vor einigen Monaten war die Stimmung anderer Hausoberer umgeschlagen und dem Bestreben, den Tod Alezêas zu durchleuchten, wurde stattgegeben. Freilich hatte es da noch eine kleine Hürde gegeben. Doch jene war gefallen. Ein weiteres Mal las die Inquisitorin über die ausschlaggebenden Zeilen:
„… habe ich mich entschieden, dem Ansinnen des Hauses Teh’kinrellz stattzugeben, auf dass es zum Gefallen der Dunklen Mutter eine Inquisitorin entsende, um den Tod der Yathallar Alezêa zu untersuchen, zu diesem Zwecke hin Verhöre durchzuführen, Urteile auszusprechen und zu vollstrecken, ohne dass Haus Avithoul zu Sschindylryn und in seiner Vertretung in Barrighym sich dem entgegenstellen möge. Ein entsprechendes Dokument über die Vollmacht liegt diesem Schreiben zur Aushändigung an Yathrin Shry Avithoul bei.
Wie unter unseren Abgesandten besprochen, macht jede Verurteilung oder strafende Aktion gegen die Vertreter des Hauses Avithoul in Barrighym ohne vorhergehende Absprache die getroffenen Vereinbarungen hinfällig.
gez.
Magroph Avithoul
Mutter Oberin“
Die Inquisitorin wusste nicht um alle Absprachen, die getroffen worden waren, um eine derartige Vollmacht für Haus Teh’kinrellz zu erlangen und sie waren ihr auch gleich. Handelsabkommen ihres Hauses lagen abseits ihrer Zuständigkeiten. Sie war Gelehrte und Jägerin in einem, sie war die Vollstreckerin, die schlussendliche Instanz. Über ihr kamen nur noch die Mutter Oberin und die Königin der Dämonennetz-Gruben selbst.
Und wenn es eine Gerechtigkeit im Unterreich gab, dann eine nach ihrer Vorstellung.
Der im Dunkel im Dunkeln
Blingdenstein, 1371 Taliser Zeit
Er schlug die Augen auf. Kein Effekt. Die Finsternis blieb, die Dunkelsicht durchdrang sie nicht.
Da waren Schmerzen an seinem Hinterkopf, oder? Nein, nein… es war die Annahme, dass da Schmerz sein müsste. Hatte der Traum noch nicht geendet? Er hatte gegraben. Erde und Stein mit seinen Händen – Klauen? – beiseite gewühlt; die Substanz zerschlagen, voller Wut, im Wahn.
Tod, Tod, Tod. Graben, graben, graben.
Das Rothé schleckt an einem Stein, einem Stein, einem Stein,
Das Rothé schleckt an einem Stein – schleckt und schleckt.
Dem Rothé schmeckt das Salz so fein, Salz so fein, Salz so fein.
Dem Rothé schmeckt das Salz so fein – schleck, Rothé, schleck.
Alle waren tot, nicht wahr? So hatte es doch geendet? Alle waren tot und er dann auch. Zuletzt dann nur graben und graben und dann Ende der Geschichte.
Er befühlte die Umgebung. Seine Hand grub sich in etwas glitschiges, zuckte kurz zurück. Dann ließ er sie wieder hineingleiten. Was konnte das sein? Also sowas, sowas hatte er noch nie in der Hand gehabt.
Mal dran riechen. Sowas, also sowas hatte er noch nie gerochen. Interessant.
Weg damit. Es brauchte Kontext. Er betastete weiter den Boden, dann erhabenes. Etwas festes. Weiter tatschen. Das war schon vertrauter. Da war doch eine Nase. Es war ganz bestimmt eine Nase und diese Nase gehörte zu einem Gesicht.
Rothé schleckt an einem Stein, einem Stein, einem Stein…
Also… wenn das das Gesicht war, dann – fühlen, fühlen, fühlen – ja, war hier eigentlich die Schädeldecke. Eigentlich, denn sie war nicht da.
Jetzt war alles klar! Ha! Das glitschige Zeugs war natürlich Gehirn. So also fühlte sich Gehirn an. Da fanden doch all die Gedanken statt und sowas? Neben der Seele. Wie sich wohl eine Seele anfühlte? Tatschen, tatschen – die Gedanken sind Brei.
Das Rothé schleckt an einem Stein – schleckt und schleckt…
Immer noch keine Sicht. Sie würde nicht wiederkommen. Mal lauschen. Es war seltsam still. Oh nein, nicht blind und taub noch dazu!
Gut, wo war er? Kurz nachdenken, graben, graben, graben, Blingdenstein! Was war passiert? Spinnendämonen waren aufgetaucht und hatten alle getötet. Da steckten doch die Dunkelelfen dahinter, die schändlich-üblen. Und er war auf dem Markt gewesen…
Dem Rothé schmeckt das Salz so fein, Salz so fein, Salz so fein...
… er hatte das Salz vergessen! Das war es also gewesen. Und dann war seine liebe Frau mit seinen Kinderlein zum Markt gegangen, um Salz zu hoooolen – und dort wurden sie getötet. Sie lagen irgendwo hier in unbestimmter Richtung. Wenn er noch hier war, aber – tatsch, tatsch – das Gehirn wies schon ziemlich genau darauf hin. Ziemlich klug.
„Hier lebt noch einer!“, rief eine Stimme, nicht zu laut. Svirfneblin waren selten laut.
Oh, er konnte hören! Er war nur blind. So ein Glück!
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er zuckte nicht.
„Komm, wir müssen hier weg. In Sicherheit.“
Ha! Haha! Hahaha!
Zwei paar Hände zerrten ihn auf die Beine. Worte wurden ausgetauscht. Die zerrenden Ausstauscher stellten natürlich fest, dass er blind war.
Merkwürdig, dieser andere Körper, der einem Halt gibt, der einen stützt. Er ist warm. Das ist nicht das Ende.
Er begann zu weinen.
Und weinte und weinte.
Minuten oder Stunden vergingen, die Welt um ihn finster, Geräusche nur Dröhnen. Er wurde irgendwo hingebracht, dort abgelegt. Allein gelassen. Zusammengekrümmt lag er da und weinte und weinte bis da keine Tränen mehr kamen. Erschöpfung übermannte ihn und er schlief ein. Er träumte vom Graben. Als er erwachte, spannte die Haut in seinem Gesicht. Na sowas! Tatschen, tatschen, tatschen. Mal dran riechen. Ah, das kannte er. Mal kosten…
Dem Rothé schmeckt das Salz so fein – schleck, Rothé, schleck.
Zaphor
„Bethym, hauen wir ab… hier ist nichts mehr.“ Die Stimme des Drow klang mehr noch als angeödet: entnervt. Gelryn war niemals begeistert, wenn sie ausgesandt wurden, um Artefakte zu bergen. In den meisten Fällen fanden sie ja doch nichts und überhaupt: sie waren gut ausgebildete Sargtlin, keine Schatzsucher.
„Und ohne was wieder zurück? Du weißt genau, wie großzügig Tenszar ist…“, antwortete Bethym, während er Stein für Stein von einem Haufen nahm und auf einen neuen Haufen warf. Stein, der einmal massive Möbel gebildet hatte für ein stattliches Zimmer. Eine Decke gab es nicht mehr. Irgendwo über ihnen nur das Ende der Höhle.
„Großzügig? Die paar Münzen, die er ausgibt, sind ‘nen Bruchteil dessen, was die Teile einbringen können“, unkte Gelryn missmutig.
„Istolil kriegt wesentlich mehr Sold als vorher“, wusste Bethym trotzig zu entgegnen. Dann wendete er den Blick zum dritten Dunkelelfen, der anwesend war und der sich bei dieser Diskussion bedeckt gehalten hatte, aufmerksam die Gegend musternd. „Oder wie ist es bei dir, Zaphor?“
Zaphor behielt den Blick in die Ferne gerichtet. Er hätte schwören können, in der Unweite der Kaverne eine Bewegung gesehen zu haben, aber es war zu ungewiss, um die anderen zu beunruhigen. Tatsächlich hatte Zaphor vor knapp einem Monat einen Dolch gefunden. Und auch ohne sonderliche Kenntnisse in Artefaktkunde war ihm sofort klar gewesen, dass es sich um ein besonderes Stück handelte. Nicht allein die außergewöhnliche Schmiedekunst, für die er durchaus einen Sinn hatte, offenbarte ihm das. Vielmehr war es das Gefühl, das Zaphor überkam, als er die Waffe in seiner Hand hielt. Er glaubte sich treffsicherer, fast schon erfüllt von der Zuversicht, mit dieser Klinge jedes Ziel exakt dort erwischen zu können, wo er es eben treffen wollte.
Sie hatten in den Ruinen des Hauses Claddath gesucht, genau in derselben Konstellation, in der sie sich heute hier fanden. Der Ort schien vielversprechend. Die Mutter Oberin war Konzilsmitglied gewesen. Mutmaßlich hatte man sie deswegen dahin geschickt und Zaphor hatte das Glück, einen jener Gegenstände zu finden, nach denen es Tenszar Yril’lysaen so sehr dürstete. Zumindest hatte er diesen Gedanken, als er das Schmuckstück fand. Tatsächlich war er dann mitsamt dem Dolch vor den Karawanenanführer getreten. Tenszar hatte Zaphor seine Dankbarkeit zuteilwerden lassen, weniger in Worten als einer nicht geringen Menge Goldes, wobei auch für Bethym und Gelryn etwas rausgesprungen war. Vor einigen Zyklen wurde dann auch Zaphors Sold erhöht. Allerdings um eine bescheidene Menge und dem Sargtlin war klar gewesen, dass sein Fund nicht der große Wurf war, auf den Tenszar gehofft hatte.
Zaphor, dem die ferne Bewegung eine gewisse Unruhe verschafft hatte, ging nicht auf Bethyms Frage ein. Die Ruinen Ched Nasads waren ein gefährlicher Ort. Nicht allein, dass Mauern willkürlich einzustürzen drohten. Sie waren nicht allein in dieser Geisterstadt. Da waren andere Plünderer, die die geringste Bedrohung darstellten. Schwieriger zu händeln waren die Monstrositäten, die die Ruinen heimsuchten. Und dann war da noch…
Zaphor riss sich aus seinen Gedanken: „Wir sollten gehen. Hier werden wir nichts mehr finden.“
Bethym wollte protestieren, aber nach der stundenlangen Schinderei kam auch er nicht umhin, sich nach etwas Essen und einem guten Schluck Pilzwein zu sehnen. So verlockend die Aussicht war, etwas zu entdecken, so gering war doch die Chance. Und sie mussten immerhin noch den ganzen Weg zurück zur Karawane antreten. Mutmaßlich wurden sie bereits zurückerwartet. Bethym besah sich den Haufen Gestein, als müsste er sich versichern, dass darunter garantiert nichts mehr verborgen war. Dann raffte er sich auf.
„Endlich“, kommentierte Gelryn lakonisch. Er hatte sich nie für die Jagd nach Artefakten begeistern können. Er fühlte sich am wohlsten, wenn er seinen regulären Dienst verrichten konnte. Nicht dass er ein Feigling gewesen wäre, aber er hatte einige persönliche Verluste in Ched Nasad beklagen müssen und so gleichgültig er sich gab, war ihm der Ort zutiefst verhasst. Er war nicht abergläubisch, aber jedes Mal, wenn sie nach Ched Nasad ausrückten, überkam ihn das Gefühl, das auch er hier sein Ende finden würde.
So brachen Zaphor, Bethym und Gelryn auf und bahnten sich ihren Weg aus dem zerstörten Gebäude. Vor nur wenigen Jahren noch hätten sie sich nicht träumen lassen können, diesen Ort zu betreten, jenen Palast des Hochadels von Ched Nasad. Jetzt verließen sie ihn achtlos, ohne jedes nostalgische Gefühl. Was früher so vieles verhieß - Macht, Reichtum, Mysterien – war nun nur noch Geröll. Die hohen Damen und Herren, die hier residiert hatten, waren tot, ausgetilgt. Bisher war nichts an ihre Stelle gerückt. Nichts hatte das Machtvakuum geschlossen. Niemand herrschte wirklich über diesen toten Ort.
Die drei Karawanenwächter verließen die Trümmerhalde, um sich auf einem Weg wiederzufinden, der einstmals eine Prachtstraße Ched Nasads gebildet hatte. Heute war es halbwegs gangbares Gelände. In der Mitte der Straße kam man ganz gut voran und die Sargtlin hielten sich nicht weiter auf.
„Jetzt renn nicht so“, sprach Bethym gehetzt.
„Er hat recht… wenn du pissen musst, dann mach’s hier“, tönte Gelryn in der gewohnt ätzenden Art.
Zaphor verlangsamte seinen Schritt. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie schnell er eigentlich unterwegs war. Ein unbestimmtes Gefühl trieb ihn voran und mit jedem Augenblick, den sie hier verbrachten, verstärkte es sich. Nach wie vor darauf bedacht, keinerlei Schwäche zu zeigen, indem er seine Besorgnis kundtat, ging er schweigend weiter, als plötzlich ein Geräusch ertönte. Ein Klackern, nur ein loser Stein, aber alarmierend genug, dass die Hände der Drow sofort zu den Griffen ihrer Schwerter wanderten.
Sie waren eine eingespielte Gruppe. Bei allen Differenzen und persönlichen Unterschied bildeten sie in solchen Momenten eine Einheit, die schlichtweg darauf ausgelegt war zu funktionieren und gegebenenfalls zu überleben. Und ganz gewiss würde keiner von ihnen einer potenziellen Bedrohung den Rücken kehren, wenn diese womöglich auszuschalten war. Das Geräusch kam aus einer der Ruinen am Rand der großen Straße. Dereinst ein stattlicher Bau, der sich emporgereckt hatte, schien er nun gedrungen, in sich zusammensackend; schmelzend, wie ihn das Steinfeuer hinterlassen hatte. Die Pforte und die Fenster des Erdgeschosses waren noch dort, wo sie ursprünglich waren, gaben aber wenig Blick ins innere frei, weil sich Geröllhaufen dahinter gebildet hatten. Zaphor wies Bethym und Gelryn in Zeichensprache an, durch die Fenster zu steigen, während er den Haupteingang nehmen würde. Widerspruchslos wurde den Anweisungen folgegeleistet und auch Zaphor schritt voran, langsam das Kurzschwert aus der Scheide ziehend.
Er durchschritt den Türrahmen und sah vor sich einem ausladenden Gesteinshaufen, der dereinst ein imposanter Treppenaufgang gewesen sein musste. Er blickte nach links und rechts, aber Bethym und Gelryn waren nicht zu sehen. Offenbar waren sie in angrenzenden Räumen gelandet. Seitlich dessen, was einstmals eine geschwungene Treppe darstellte, erblickte Zaphor einen Durchgang, mutmaßlich zu einem Innenhof oder Garten. Er war sich sicher, dass die Geräusche daher gekommen waren. Mit geschmeidigen Schritten, bedacht darauf kein Geräusch zu erzeugen, näherte er sich der Öffnung. Mit einer geschwinden Bewegung brachte er sich an die gegenüberliegende Wand, die ihm etwas Deckung verhieß. Gleichzeitig erlaubte ihm die neue Position, einen besseren Blick in den großzügigen Innenhof zu werfen. Und da sah er ihn…
„Hey!“, Gelryns harsche Stimme hallte durch den Innenhof. „Was hast du da?“
Offenbar war Gelyrn schneller durch die Räume gekommen als Zaphor und hatte einen anderen Weg in den Innenhof gefunden, wo er nun die kleine Gestalt erblickt hatte, die dort kniete. Gelyrn, der eher wenig Gefühl für Subtilität hatte, sobald er sich in einer Situation überlegen sah, donnerte seine Frage gen dem fremden Wesen, das den Blick auf etwas in seinen Händen gerichtet hatte. Zaphor schlüpfte durch die Pforte, den Fokus auf die Kreatur in der Mitte des Innenhofs gerichtet. Aus dem Augenwinkel sah er Bethym heraneilen, der dann prompt stoppte, genau gegenüber von Gelryn.
Zaphors Gefühl der Verunsicherung, der drohenden Gefahr, wuchs an. Für einen Augenblick drohte es ihn zu überwältigen. Er musst blinzeln und seinen Kopf etwas schütteln, um seine Konzentration aufrecht zu erhalten und sich nicht von seinen diffusen Wahrnehmungen überwältigen zu lassen. Er spürte, wie sich Kopfschmerzen ihre Bahn brachen und dass das mulmige Gefühl ihm Übelkeit bescherte. Fast wie von selbst trugen ihn seine Füße voran, ebenso wie die beiden anderen Karawanenwächter.
Unbeeindruckt von Gelryns Rufen verharrte die Kreatur, scheinbar ein Svirfneblin, ungerührt. Ein Umstand, der Gelyrns Zorn beflügelte: „Steh auf, du beschissener Svrif! Was machst du hier, was hast du da?“
Gelryn konnte aus seiner Perspektive offenbar mehr sehen als Zaphor, dem der Gnom den Rücken zugewandt hatte. Auch Bethym schien besser erkennen zu können, was der Gnom da in den Händen hielt. Seine Augen waren weit; er staunte nicht schlecht. Einige Momente verstrichen, als hätte der Gnom die Aufforderung Gelryns nicht gehört oder sie schlicht ignoriert. Tief in sich fühlte Zaphor, dass es besser wäre zu gehen. Den Gnom Gnom sein zu lassen. Einfach zu verschwinden von diesem schrecklichen, leblosen Ort.
Da erhob sich der Gnom und drehte sich in gleichem Zuge, so dass er nun Auge in Auge mit Zaphor stand, während sich von links Gelyrn und von rechts Bethym näherten. Die Augen aller drei glitten zu dem, was der Gnom in seinen Händen hielt. Das Geschmeide, silbern und türkis glänzend, rann ihm förmlich über die Finger. Nicht dass der Gnom es dargeboten hätte, aber er gab den Blick darauf preis, großmütig beinahe, als wollte er die drei Drow daran teilhaben lassen.
„Was ist das?“, stammelte Bethym, überwältigt von dem Anblick des Colliers, perplex ob der Unwirklichkeit des Moments.
„Verdammt teurer Schmuck, wenn du mich fragst“, entgegnete Gelryn lapidar, aber so leichthin er die Worte auch sprach, schien auch ihm diese Situation Unbehagen zu bereiten.
Zaphor hob den Blick zum Gesicht des Gnoms, der nichts sagte, keine Regung zeigte. Da war keine Unsicherheit, keine Angst, nicht im Ansatz das, was man von einem Tiefengnom erwarten würde, wenn ihn Drow in solch einer Situation antreffen. Und dann, als er nah genug war, erkannte Zaphor etwas, das ihn schaudern ließ…
„Er… er ist blind“, hörte er Bethyms Stimme das aussprechen, was sich Zaphor soeben offenbart hatte. Bethym hätte genau so gut sagen können „Das ist nicht richtig“ und, gewiss, es gab keinerlei Grund, aus dem sich ein Drow vor einem Tiefengnom hätte fürchten müssen, aber das hier war anders. Dieser blinde Svirfneblin in seiner Ruhe konterkarikierte das Gefühl, das Zaphor beinahe wegrennen ließ.
„Der ist nicht nur blind, sondern auch ein bisschen bekloppt, wenn du mich fragst.“ Gelryn breschte voran und mit einem Streich seiner Hand entriss er dem Tiefengnom das Collier. Der Svirfneblin zuckte nichtmal. Gelryn passierte ihn, die Spitze seines Schwertes auf den Tiefengnom gerichtet. Ein Grinsen stahl sich in das Gesicht des Drow und gen Zaphor mit erzwungen souveräner Tonalität: „Haben wir doch noch was abgegriffen.“ Dann warf Gelryn das Geschmeide Zaphor zu. Zaphor fing es instinktiv. Er fühlte sich vollkommen unbeteiligt. Nur ein Zuschauer, der nicht eingreifen konnte. Gelryn scheidete sein Schwert.
„Keine Sorge, ich mache ihn nicht gleich nieder. Ein blinder Svrif… das ist fast schon wieder witzig.“
Bethym fühlte sich sichtlich unwohl. Nicht in einem Maße oder der Prägnanz, wie es Zaphor tat, aber er tat nichts, um Gelryn zu unterstützen und Unterstützung brauchte jener auch nicht, nachdem er seine Handschellen zückte, dem regungslosen Gnom grob die Arme auf den Rücken zwang, um ihm die Fesseln in das Metall zu zwängen. Der Svirfneblin zeigte keinerlei Widerwehr und nachdem sein Werk verrichtet war, tänzelte Gelryn in Bethyms Richtung, bis er sich auf einer Höhe mit ihm befand, es seinem Kumpan gleichtat und den gefesselten Gnom ansah.
Zaphor spürte das Gewicht des Geschmeides in seiner Hand, aber sein Blick galt dem Tiefengnom, der seinen Kopf langsam drehte und das Kinn etwas reckte. Schaudernd richteten sich Zaphors Augen auf den Punkt, dem sich der Tiefengnom in seiner Blindheit zuwandte. Von fern drang das Lachen Gelryns an sein Ohr.
Dann sah er den Drachen aufsteigen, seine Nüstern blähend. Er hörte sich etwas schreien, während sich seine Füße vom Boden lösten und er sprang. Er sah den Tiefengnom, der aus blicklosen Augen auf Zaphor starrte. Er sah Bethym und Gelryn gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Der Odem des Drachens traf sie. Ihre Gesichter schmolzen. Die Druckwelle schleuderte Zaphor zurück. Das letzte, was er glaubte zu erkennen, war der Blick des Svirfneblin, ausdruckslos, gleichgültig, tot wie diese Stadt, tot, wie er binnen Momenten sein würde.
Die fünfte Tochter und das große Töten
Es war nicht der erste zornerfüllte Schrei, der aus der Ferne an ihr Ohr drang. Ein selbstzufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Die fünfte Tochter neigte nicht zu Sadismus. Dessen hatte sie zu viel in ihrer Jugend erlebt und als Dienerin der Spinnenkönigin. Niedere Kreaturen sinnlos leiden zu lassen lag ihr fern und entbot ihr keine Genugtuung. Doch die Bewohner Tsenviilyqs waren etwas anderes.
Die Derro waren durch und durch boshafte, widerwärtige Kreaturen. Ihre Existenz schien allein das Ziel zu verfolgen, andere Existenzen zu erschweren oder zu tilgen. Ihre kleinen, deformierten Körper nach und nach dem Tod zu überantworten, war eine Wohltat an Faerûn. Aber das war kein Grund, sich hinreißen zu lassen. Vielmehr war es die Zufriedenheit, das Gefühl, sich nicht getäuscht zu haben und auf der richtigen Seite zu stehen. Nunja, vielleicht nicht der richtigen Seite, aber der Seite, die ihren Ambitionen am ehesten Vorschub leisten konnte.
Sie schloss die Augen; versuchte die Bilder zur Kakophonie des Schreckens und des Sterbens zu zeichnen und es gelang ihr gut, denn sie hatte die Kreaturen, die jene unglückselige Derro-Brut vernichteten, bereits mit eigenen Augen gesehen, Meilen um Meilen entfernt, in einer Zeit, die Dekaden schon vergangen schien. Da tat es auch nichts zur Sache, dass die Derro ganz anders schrien, als sie sich verteidigten, als sie starben.
Die fünfte Tochter drehte sich um, legte seitlich Wange und Ohr an den Stein des Tunnels, beide Arme strecke sie leicht von sich, strich mit ihren Handflächen fast leidenschaftlich über das kühle Mineral. Sie presste die Lenden gegen den Stein, als wolle sie sich mit ihm vereinen, während sie lauschte. Es waren verschiedene Ebenen der Akustik, eine Art Lied: der ferne Kampfeslärm die Melodie, das Rumoren des Steins der Rhythmus, ein Pulsieren.
Für einen Augenblick kam ihr das Tun falsch vor, diese exzessive Leidenschaft, die Hingabe zu einer Sache ohne Sinn und ohne Ziel, denn sie wusste nicht, warum sie hier war, welchen Zweck sie hatte. Sie war dem Ruf gefolgt, hatte unendliche, gefahrvolle Meilen des endlosen Zwielichts durchquert. Da war Verunsicherung gewesen. Oft genug. Doch Verheißung hatte sie vorangetrieben und nun war das große Töten gekommen. Keine Belohnung, sicher. Dafür traf es nicht die Richtigen, wenngleich auch nicht die Falschen. Es war ein Beweis. Nur für sie. Etwas, das ihr sagte: "Du bist hier richtig. Es war nicht umsonst. Was du wünschst, wird sich erfüllen." All das Schlachten, nur für sie.
Tränen entrannen ihren Augen, während sie den Stein koste – oder er sie? Ein Rest ihres früheren Seins schrie, dass all das falsch war. Ein Echo des Vergangenen, ihres Selbst oder des vergangenen Selbst durchdrang die Geräusche des Kampfgeschehens und schalt sie: Wie konnte es nur so weit kommen? Was bist du geworden? Wessen fühlst du dich wert? Was bist du mehr als nichts? Du solltest nicht mehr sein.
Ihr Lippen bewegten sich, formten tonlose Worte, den Stein berührend. Es war ein Zwiegespräch mit ihrer Herkunft, eine Entgegnung auf die Schikanen der Mutter Oberin, die jene Widerworte nie geduldet hätte. Doch nun konnte sie ihr widersprechen. Denn sie war tot und die anderen auch. Aber da war eine zweite Stimme: ihre eigene. Und sie verlangte: Wende dich ab! Lauf! Lauf! Aber die Melodie, der Rhythmus… das Versprechen von Zerstörung. Danach sollte sie sich doch verzehren! Das sollte ihr Verlangen sein! Nein, diese Stimme… ihre alte Stimme, sie irrte sich… wer war sie? Nur ein Wesen, das nicht mehr sein sollte. Was war sie mehr als nichts? Welchen Wert beschied sie sich? Was glaubte sie zu sein? Wie hätte es nicht so weit kommen sollen? Wie konnte anderes richtig sein?
Die fünfte Tochter lachte, gackerte, krümmte sich am Felsgestein. Und in einem Augenblick, einem winzigen Momentum rief etwas in ihr: Lolth, erbarme dich meiner…
Und für einen Hauch eines Moments, während die fünfte Tochter am Stein lehnte, zwischen Klang und Puls harrend, fühlte sie eine Antwort nahen. Fordernde Worte der Unterwerfung gewiss, aber war Unterwerfung nicht das ultimative Versprechen von Sicherheit?
Doch die dröge, tonlose Stimme, die aus der Luft, aus dem Fels, ihrem Inneren drang, war eine andere und die Worte versprachen nichts, sie forderten ein.
„Geh jetzt, ich führe dich. Bist du dort, nimm das Ding an dich.“
Sie glitt an der unförmigen steinernen Wand hinab, kaum fähig zu sprechen. Und doch sprach sie. Ihre tränenschweren Augen waren weit. Sie fühlte sich, als hätte ihr Körper jegliche Substanz verloren und würde gleichzeitig erdrückt von unendlicher, steinerner Schwere.
„Und dann… wohin?“
Schreie.
IN DIE HÖLLEN! IN DEN ABGRUND! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN! INS VERDERBEN!
Die gleichmütige Stimme antwortete:
„Zum Händler.“
Der Händler und die Inquisitorin
Barrighym, 1376 Taliser Zeit
Ein Moment des Schweigens stellte sich ein, in denen die Gesprächspartner stumm den Fortlauf des Gesprächs abwägten. Der Inquisitorin ging das Vergnügen an der Anwendung von Folterpraktiken weitgehend ab. Nicht dass sie nicht über ein breites Repertoire verfügt hätte, aber sie kam nie umhin, die Nutzung desselben als Zeichen von Versagen zu deklarieren. Ermächtigt durch die Gunst der Dunklen Mutter hatten ihr Auftreten und Nimbus zu genügen, um die sofortige Nachgiebigkeit des Befragten zu erzwingen. Die Realität sah freilich anders aus. Und der Grund dafür lag in den Spielarten der Angst.
Bewusste oder unterbewusste Angst war das maßgebliche Konzept nahezu jeder Überlegung zum Handeln und jeder Interaktion in zivilisierten und unzivilisierten Gefilden des Unterreichs. Als immanenter Bestandteil der Wesenswelt eines Individuums konnte sie bestärken oder lähmen. Für der Inquisitorin eigenes Agieren und für den Erfolg ihrer Bestrebungen war es essenziell, eine diffuse, unmittelbare Angst durch eine konkrete, mittelbare zu ersetzen. Anstelle der Furcht davor, was hervorgerufen werden konnte, würde das Schweigen gebrochen, musste die Sorge um die eigene Unversehrtheit im Hier und Jetzt treten. Wenn ihr als Inquisitorin dies nicht gelang, war sie ihrer Profession nicht mehr gewachsen. Mehr noch: sie beschädigte den Glauben an die Spinnenkönigin. Gewiss war die Teh’Kinrellz nicht so naiv anzunehmen, dass ihre Herrin allzeit über ihre Aktionen wachte und urteilte, aber dies konnte nicht die Prämisse ihres Vorgehens sein, nicht ihr Anspruch.
Und so verstand sie durchaus, dass es Begebenheiten gab, in denen allein ihre Bedrohlichkeit und selbst die Androhung von Schmerz nicht genügten, um jemanden zu brechen. Gleichwohl fiel es ihr immer und immer wieder schwer, die Irrationalität zu begreifen, mit der sich Personen in solch eine Situation begaben, die ohnehin schon nachteilhaft war, um sie noch definitiver zu machen. Warum begriffen sie nicht, dass das Überschreiten eines gewissen Punktes zu irreversiblen Konsequenzen führte? War es, weil sie auf Zeit spielten? Die Hoffnung hatten, das Blatt könne sich noch wenden? Die Unmöglichkeit, sich in diesen letzten Momenten von Angst zu befreien, sich den Schmerz zu ersparen und den Rest ihrer erbärmlichen Existenz in so etwas wie Würde zu beschließen, konnte die Inquisitorin nicht nachvollziehen. Es waren kurze Momente des Bedauerns, das sie empfand, und glücklicherweise waren sie selten.
Tenszar Yril’Lysaen wiederum war weit davon entfernt, sich in so eine Lage zu manövrieren. So weit, dass es die Inquisitorin skeptisch stimmte. Sie hatte schon mit selbstverliebten Handelsherren zutun gehabt. Jene, die geradezu übereifrig ihre Unterwürfigkeit zuschaustellten. Sie fühlten sich dermaßen sicher, dass sie sich nicht einmal bemühten, die Heuchelei ihrer Lippenbekenntnisse mit furchtvollem Erzittern zu verbergen. Andere wiederum gingen in die Offensive. Schmallippig antworteten sie in spröden Phrasen, wohl darauf sinnend, die Inquisitorin möge die Lust an ihnen verlieren, als ob die Intensität ihrer Nachforschungen an irgendeinen Unterhaltungswert gebunden wären.
Dieser Händler indes hatte gewiss ein sprödes Naturell, aber er sprach nicht einsilbig. Seine Antworten waren wohlüberlegt, trugen aber nicht den Deckmantel der Heuchelei. Tenszar mochte nicht furchtvoll sein, doch egal war ihm die Situation nicht. Er hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet und antwortete freimütig, aber nicht leichthin. Seine Erzählung, so absonderlich der Inquisitorin viele seiner Entscheidungen vorkamen, ergaben Sinn. Doch das Bild, das die Inquisitorin erhielt, wollte sich nicht fügen und so verharrte sie in diesem Moment, wie auch Tenszar verharrte und sich seinen eigenen Gedanken hingab.
Der Händler hatte den Besuch von Vierice Teh’Kinrellz erwartet, noch bevor sie überhaupt die Tore Barrighyms gequert hatte. Er hatte die Vereinbarung nicht vergessen, die in den Ruinen Ched Nasdas beschlossen worden war. Tenszar war nicht begeistert von den Konzessionen, die zu machen waren, aber zu jenem Zeitpunkt ging es ums Überleben und er war – streng genommen – kaum mehr als der Anführer einer Bande von Plünderern. Vorkaufsrechte für Haus Teh’Kinrellz, Einflussnahme zugunsten dieses überlebenden Hauses… alles machbar. In der Nachbetrachtung mochten die Leute unken und von Naivität oder gar Idiotie sprechen, aber zum damaligen Zeitpunkt versuchte jeder, seine Eigeninteressen zu wahren. Das war kein Sava-Spiel, wo sich Zug um Zug die Gesamtumstände änderten. Man setzte alles auf ein Blatt, auch wenn die Karten denkbar schlecht waren. Es war der große Bluff. Und da Tenszar wusste, dass die Teh‘Kinrellz ebensowenig in der Hand hatten wie er, hatte er sich darauf eingelassen. Diffuse Versprechungen konnte er umstandslose geben, wenn er damit Probleme im Hier und Jetzt vermeiden konnte. Mit Priesterinnen, geschweige denn Inquisitorinnen, hatte er nie gesprochen. Dass es dies ohnehin zu vermeiden galt, zeigte sich nach und nach.
Im Fortgang der Ereignisse, in dem die Karawane wuchs und sich der Wunsch nach einem festen Ort zum Verbleib manifestierte, war es immer relevanter geworden, an welchen Handelsplätzen des Unterreichs der Klerus besonders rigoros vorging. Es war seiner wachsenden Verantwortung für die überaus … nunja … heterogene Truppe geschuldet, dass er dergleichen in seinen Überlegungen berücksichtigen musste. Er selbst hatte in Ched Nasad nie mit sonderlichen Restriktionen durch die Kirche zu kämpfen gehabt, aber damals besaß er nicht ansatzweise die Macht, die er schließlich erworben hatte und die die Priesterschaft der Spinnenkönigin mit Sicherheit nicht dulden würde. Draußen in den Tunneln konnte er sich blindstellen, wohl wissend um die subversiven Elemente, die Teil der Karawane geworden waren. Der Hass auf die Kirche der Lolth grassierte unter ehemaligen Sklaven wie von Verlust geschlagenen Ilythiiri gleichermaßen. Was er erkannte, würde auch in den Städten erkannt, die als mögliches Ziel für ein Sesshaftwerden infrage kamen und dann würde er, Tenszar Yril’Lysaen, als Anführer und im Zweifelsfall oberster Aufrührer wahrgenommen werden, schon wenn nur einer der Hasserfüllten seiner Wut Ausdruck verlieh.
Eine Gruppe von fünfzig Ilythiiri und hundert Sklaven – das ließ sich bewältigen, aber einhundertfünfzig und mehr Händler, Befreite und Sklaven aus verschiedensten Völkern und Schichten – die konnten entweder vernichtet werden oder würden potenziell für Vernichtung sorgen. Beides widerstrebte den Intentionen des Händlers. Es war sicher nicht das angenehmste Leben, in einer Karawane unterwegs zu sein, zumal die ihm de facto gleichgestellte Menschenfrau Nayrin ständig in seiner Nähe war und aus ihrer Abscheu keinen Hehl machte (ebenso wenig wie er ihr gegenüber), aber dennoch hatte Macht die untrügliche Eigenschaft, dass man sich recht schnell an sie gewöhnen konnte. Wesentlich besser jedenfalls, als an die Verantwortung, die sie mit sich brachte. Der Hass der anderen, die Verantwortung und die Frage nach der Perspektive hatten ihn nachdenklicher und gar philosophischer werden lassen, als er sich je zugestanden hätte. Doch Geschäftsmann wie er war, blieb seine Maxime immer der größtmögliche Gewinn.
Nein, die Kirche, die hatte wirklich nur ab und an einen Stellenwert in seinen Gedanken eingenommen. Erst als er von Barrighym gehört hatte, änderte sich das und er sah sich mit der ganz praktischen Überlegung konfrontiert, wie man sich mit dem Klerus der Spinnenkönigin an einem so überschaubaren Ort arrangiert. Dass dies gelingen konnte, davon war er schließlich überzeugt. Er würde seine Trümpfe ausspielen. Er hatte sich gegen Nayrin, seine ehemalige Sklavin, und ihren unbestreitbaren Einfluss in der Karawane durchsetzen müssen, aber dabei war ihm das Schicksal zur Hilfe gekommen. Und schließlich hatte man den Ort erreicht und es war an der Zeit gewesen, seine erworbene Macht und die Karten, die er in der Hinterhand hatte, zu nutzen.
Der Stärke der Karawane zu demonstrieren, bedurfte keines sublimen Intrigenspiels. Sie hatte militärische Macht, aber die erschien lachhaft im Vergleich zur geballten Handelskraft der mitreisenden Geschäftsleute. Tenszars Aktion hatte einen Kulminationspunkt der Handelsinteressen des westlichen Unterreichs hervorgebracht. Märkte waren gefallen. Neue Märkte würden entstehen. Und während in (vermeintlich) zivilisierteren Gegenden eine bestimmte Handelsorganisation durch Repressalien wie Schutzgelderpressungen und Überfälle ihre Eigeninteressen in Bahnen lenkte, war hier, fernab der etablierten Strukturen, Raum für Entfaltung, Unabhängigkeit und – vor allem – Profit. Tenszar hatte keinen Zweifel, dass dieses Streben, dieses Gefühl von Aufbruch, auf Barrighym abstrahlen würde. Unwohlsein bescherte ihm jedoch die Anwesenheit der Priesterin Alezêa, gehörte jene doch – welch absonderlicher Zufall! – dem Haus Teh’Kinrellz an. Es war nur eine von vielen Absurditäten, die Tenszar bis heute beschäftigen sollten. Hatte der Handel in Ched Nasad ihn zwangsläufig hierhergeführt? Seiner Ansicht nach hatte es sich aus diversen Umständen heraus so ergeben, aber Tenszar war zu pragmatisch, um an Zufälle zu glauben. Aber wenn es kein Zufall war, dann war er manipuliert worden, ohne zu wissen von wem, auch wenn er noch so eine Ahnung erhalten sollte. Unbenommen davon gab es kein Zurück mehr. Er musste mit dem agieren, was ihm zur Verfügung stand.
Er setzte also auf Einschüchterung einerseits und Gewinnstreben andererseits. Damit ließ sich Barrighym vereinnahmen, aber nicht zwangsläufig ein etabliertes Adelshaus, das immerhin die machtvollste Institution des Ortes war, neben der Kirche der Spinnenkönigin. Und an dieser Stelle hatte Tenszar beschlossen, etwas zu wagen.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er auf den Rat der Kreatur gehört hatte. Meist hatte es sich bei den Ratschlägen darum gehandelt, welche Route die bessere war. Im Vorbeigehen wurde ihm zugerufen, besser die südlichen Tunnel zu nehmen. Er hatte es ignoriert, ein paar Karawanenwächter verloren. Ein andermal wurde er von ihr gewarnt, Kundschafter nicht auf bestimmte Pfade zu schicken. Auch das hatte er abgetan und die Kundschafter wurden, zerhackt von Hakenschrecken, tot aufgefunden. Irgendwann wurde das Wasser knapp und er hatte zum ersten Mal gehört und danach gehandelt und sie waren an eine Quelle gelangt. Als es darum ging, nach Norden gen Szith Morcane zu reisen, obwohl es Tenszar widerstrebte, da er sich bereits für Barrighym als Ziel entschieden hatte, war es erneut die Empfehlung seines obskuren Ratgebers, der ihn die Karawane in nördliche Richtung führen ließ. Auf dem Weg dahin hatten sie erfahren, dass Szith Morcane nun in der Hand von Feuerriesen war. Damit hatte sich seine Vormachtstellung in der Karawane endgültig gefestigt, da es eigentlich Nayrins Wunsch gewesen war, dorthin zu gelangen und sie nun in ihrem Ansehen beschädigt war. So waren sie dann nach Barrighym gelangt.
Das Wagnis also, der letzte Rat, der ihm von diesem unheimlichen Begleiter erteilt worden war, hatte sich als das Fanal herausgestellt, das ihm nun den Besuch der Inquisitorin beschert hatte. Tenszar gingen die einerseits kryptischen, aber doch sehr klaren Worte durch den Kopf: „Gib den Schmuck der Obersten.“ Eigentlich hatte er Malyks Geschenk behalten wollen, bis er es über Mittelsleute in Undrek’Thoz veräußern konnte, aber ihm war bereits klar gewesen, dass er niemals den adäquaten Gegenwert würde erhalten können. Also: wieso nicht? Tenszar hatte sich mit dem Artefakt in seinem Besitz ohnehin nie wohlgefühlt. Dass er der Eigner des Colliers war, stellte mit ziemlicher Sicherheit kein Geheimnis innerhalb der Karawane dar, womit er der Gefahr ausgesetzt war, die so eine Habe eben mit sich brachte. Die Oberste? Nun, das war entweder Alezêa Teh’Kinrellz als Yathallar oder Shry Avithoul und damit die Mutter Oberin des Hauses Avithoul in Sschindylryn. Nach seinem Dafürhalten hatte Alezêa zum Moment hin nur religiöse Macht an jenem Ort. Damit fiel ihm die Entscheidung leicht.
Es war ein gewagtes Spiel, weil Tenszar nur als irre erscheinen konnte, wenn er so einen unschätzbar wertvollen Gegenstand als profane Bestechung fortgab. Aber genau darin lag der Charme dieses Vorgehens. Er würde die Macht der Karawane und den Einfluss der Händler durch so eine vermeintlich irrationale Entscheidung konterkarikieren, sich als durchschaubar und damit beherrschbar offenbaren. Und dies sollte es schließlich sein, was den Eintritt nach Barrighym gewährleisten würde.
Macht. Tenszar hatte zu sehr an ihr gehangen, um dem eigenen Zweifel nachzugeben. Dass sein „Berater“ nicht in lauterer Absicht handelte – das war ihm von Anfang an klar gewesen. Und dennoch hatte jeder Ratschlag Tenszars Bestreben befördert, seine Macht gefestigt und ihn so weit gebracht. Doch dann war die Katastrophe eingetreten. Der Handelsherr hatte nicht damit gerechnet, dass das Artefakt in Barrighym verbleiben und die Hände Shrys verlassen würde. Unter Staunen und Entsetzen hatte er mitansehen müssen, wie Alezêa Teh’Kinrellz in einem nicht vorstellbaren Ausmaß religiösem Wahns Malyks Geschenk opfern wollte. Er war dort gewesen. Er hatte von der Flucht der Kreatur erfahren. Und als es zur Explosion kam, als die Schreie und das Chaos den Tempelraum durchfluteten, begriff er den Verrat und erkannte, dass auch er hier sterben sollte. Als sich das metallene Kohlenbecken in messerscharfe Geschosse auflöste, vernahm er Worte in einer Sprache, die er nicht verstand, aber deren Hohn unverkennbar war. Er würde sie jederzeit wiedergeben können. Es war einer seiner Leibwächter, der sich dem todbringenden Stück Eisen, das für Tenszar bestimmt war, in den Weg warf. Die unglaublichste alle Handlungen, die ein Diener an seinem Herren vollbringen konnte, noch dazu an diesem Ort. Tenszars Gedanken rasten. Er wurde fortgerissen.
In den folgenden Zyklen bekam er alles, was er angestrebt hatte. Er war rational genug, um das Chaos für sich zu nutzen. Die Pläne waren bereits weit genug gediehen, wenngleich das Ausmaß der Katastrophe nun zu einer geschwinden Überarbeitung derselben anhielt. Barrighym würde eine gänzlich neue Gestalt erhalten und er war der Architekt. Ihm war gewiss, dass er sich Verdächtigungen ausgesetzt sehen und dass Haus Teh’Kinrellz es nicht auf dem Tod der Angehörigen beruhen lassen würde. Nein, er war nicht überrascht, als es hieß, dass eine Abordnung des Hauses Barrighym erreicht hatte. Er wusste, was er zu sagen hatte und welche Details nicht von Bedeutung sein würden.
Und so hatte er der Inquisitorin alle Fragen beantwortet. Unter dem durchdringenden Blick ihres einen Auges. Es hatte nur Momente gebraucht, um zu erkennen, dass sie ihn durchschaute, um die Aussparungen wusste. Ahnte sie, dass er selbst Kontakt mit dem Gnom hatte, einige Entscheidungen auf seinen Ratschlägen beruht hatten? Wenn sie es tat, so störte sie sich nicht an den Auslassungen, zumindest nicht auf ersichtliche Weise. Womöglich hatte sie bezüglich des Umgangs mit Tenszar konkretere Instruktionen erhalten, die ihm in gewissem Ausmaß Immunität zusicherten. Über Handelsbeziehungen wurde kein Wort gesprochen. Und dennoch schien nun der Moment gekommen, da sie eine Entscheidung traf. Oder vielmehr ein Urteil fällte.
Vierice Teh’Kinrellz wägte ab. Sie entsann sich der eigenen Überlegungen zum eigenartigen Konzept der Gerechtigkeit, sowie der Schlussfolgerung, dass sie es war, die entschied, was „gerecht“ war. Es musste immer jemand entscheiden, was gerecht war. Allein die Kontemplation, das Gegenüberstellen von Argumenten schien Gerechtigkeit von idealisierter, moralgeschwängerter Willkür abzuheben. Und willkürlich handelte sie nicht. Zwar konnte Angst in Verbindung mit drohender Gewalt kurzfristig nutzbringende Wirkungen entfalten, aber Vierice konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Ausübung reiner Willkür in den Implikationen unabsehbarer war als bedachtes Handeln.
Wenn sie Gerechtigkeit walten und gleichzeitig Angst erhalten und nutzen wollte, so musste ihr Urteil angemessen sein. Also: welches Urteil war für Tenszar Yril’Lysaen angemessen? Er hatte mit befreiten Sklaven paktiert. Hatte die Ruinen Ched Nasads geplündert und Dinge in seinen Besitz gebracht und gehandelt, die erstinstanzlich der Kirche der Dunklen Mutter hätten überantwortet werden müssen. Er hatte die Karawane an Orte geführt, die Lolth entsagt hatten, dort Handel getrieben und sogar darauf gehofft, sesshaft zu werden. Er hatte Mühen darauf verwendet, einen blinden Gnom durch das halbe Unterreich zu schleppen, obwohl dunkelelfische Wesenstreue und Vernunft ihm geboten hätten, die Kreatur zu vernichten. Fürderhin hatte er Malyks Geschenk bewusst nicht in die Obhut des Hauses Teh’Kinrellz gegeben, obwohl er sämtliche Chancen dazu hatte und mit Yathallar Alezêa sogar am Zielort seiner Reisen ein Mitglied des Hauses zugegen war. Er hatte das Geschmeide stattdessen einem anderen Haus übereignet. Ob dies als Verrat an der Vereinbarung mit Haus Teh’Kinrellz zu gelten hatte, erachtete Vierice für den Fall als unbedeutend. Vielmehr fiel der Umstand ins Gewicht, dass die Yathallar nach allem Recht der Dunklen Mutter die höchste Person am Ort war und ein Gegenstand mit der Bedeutung und Historie von Malyks Geschenk damit eindeutig in ihre Hände gehört hätte. Sollte Malyks Geschenk mitursächlich für die Explosion im Tempel gewesen sein und Tenszar vom zerstörerischen Potenzial des Artefakts gewusst haben, so traf ihn auf jeden Fall eine Mitschuld. Denn ob er nun das Collier an Shry zur Weitergabe an die Mutter Oberin Avithoul gegeben hatte oder Shry es von sich aus – schon aus Respekt – an Alezêa weitergegeben hätte, spielte für den Umstand, dass Tenszar damit einen Anschlag auf die Priesterschaft der Spinnenkönigin in Kauf genommen hatte, keine Rolle. Dass Tenszar selbst im Tempel anwesend war, verschaffte ihm ein Alibi, das so allerdings erst handfest gewesen wäre, wenn er dabei umgekommen wäre. Dass der Gnom, der das Artefakt in Ched Nasad geborgen hatte, am selben Zyklus aus der Obhut des Yril’Lysaen entrinnen konnte, war mitnichten ein Zufall und – wenn Tenszar nicht auf seine Weise dabei geholfen hatte, so war es doch eine Folge der Nachlässigkeit, die sich daraus ergab, den Svirfneblin am Leben gelassen zu haben. Und schlussendlich: reduzierte man alle Ereignisse auf diesen Moment, da der Handelsherr hier in seinem protzigen Zimmer mit den abstrusen Kunstgegenständen saß, so erübrigte sich die Frage nach dem Motiv. Die Errichtung des neuen Tempels sollte dann nur gar zu offensichtlich sträfliches Unvermögen oder schändlichen Unglauben kaschieren.
So reflektierend verspürte Vierice etwas Ungewöhnliches: Zorn. Flammende Wut züngelte in ihrer Brust und setzte ihr kaltes Herz in Flammen. Nur für einen Bruchteil dessen, was dem Gildenherr vorzuwerfen war, hatte er den Tod verdient und in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort wäre ihm jener gewiss gewesen, doch nun – und so beruhigte sich die Inquisitorin genauso schnell, wie sie in Rage geraten war – galt es, eine andere Perspektive einzunehmen.
Tenszar hatte den Angriff auf Ched Nasad überlebt. Er hatte sich danach einer weiteren lebensgefährlichen Situation ausgesetzt gesehen und sich behaupten können, zum Anführer der Karawane gemacht und über die nächste Zeit hinweg seine Vormachtstellung und damit jene der von Lolth begünstigten Rasse ausgebaut. Er hatte ein Abkommen mit dem Haus Teh’Kinrellz geschlossen und damit in gewisser Weise die Legitimation für sein künftiges Handeln, sofern es jener Vereinbarung dienlich war, erworben. Am Versagen ihres eigenen Hauses, den Yril’Lysaen besser zu überwachen oder ihm einen „Aufpasser“ mitzugeben, störte sich die Inquisitorin, doch das war nicht Tenszar anzulasten. Zusätzliche Unterstützung brachte Tenszar die Vielzahl an Händlern ein, die verschiedenen, sehr etablierten und mächtigen Häusern angehörten. In welchem Umfang hier von einer Duldung durch die jeweiligen Priesterinnen zu sprechen war, konnte Vierice nicht ermessen, doch konnte sie es ebensowenig von der Hand weisen.
Trotz Versuchen, andernorts zu verbleiben, hatte er sich schließlich gegen Widerstände für Barrighym entschieden, wo mit Alezêa eine Vertreterin des Hauses Teh’Kinrellz zugegen war. Er hatte dort nicht den Konflikt, sondern einen friedlichen Weg gesucht, in Barrighym Einlass zu erhalten. Der grundsätzliche Gedanke, die hiesige Obrigkeit mit Malyks Geschenk zu bestechen, war ihm nicht anzulasten – vorausgesetzt ihm war die destruktive Kraft des Geschmeides nicht bewusst. Vierice glaubte ihm – und Haus Avithoul hatte es ihr bestätigt –, dass das Artefakt nicht magisch war. So hatten es die Untersuchungen ergeben und Vierice hatte keinen Zweifel an diesem Ergebnis. Wenn das Artefakt, spätestens zum Zeitpunkt der Opferzeremonie, magisch war, dann weil es seine magischen Eigenschaften auf besondere Weise hatte verborgen halten können oder weil es nach dem Diebstahl aus Haus Avithoul verzaubert worden war. Dass Tenszar für den Diebstahl haupt- oder mitverantwortlich war, erschien der Inquisitorin unwahrscheinlich. Der Diebstahl war ein ganz eigener Bestandteil ihrer Ermittlungen.
Tenszars Schilderungen zufolge, die sich mit einem kryptischen Schreiben Alezêas an den Klerus ihres Hauses deckten, war es ihr Wunsch gewesen, aus dem entdeckten, spinnenförmigen Fels einen Tempel zu formen. Tenszar war dieser Forderung nachgekommen, auch nach dem Tod der Yathallar. Er hatte damit einen imposanten Ort des Glaubens geschaffen und wenngleich sein Handeln nicht von Frömmigkeit getragen war, so konnte die Wirkung seines Handelns dem Glauben an Lolth in Barrighym nicht abträglich sein. Und – so hatte Vierice bereits festgestellt – erschien Tenszar in seinem Bericht aufrichtig.
Letztlich ließ sich die Frage stellen: hätte Tenszar nicht auch auf andere Weise die Karawane in Barrighym integrieren können? Musste es wirklich auf dem verdächtigen und – was den (Wieder)Aufbau des Ortes betraf – kostspieligen Weg sein, eine Explosion herbeizuführen und irgendwelche Riesenlarven auf Barrighym loszulassen? Vierice erschien das zu abstrakt. Die Beherrschtheit des Händlers im Angesicht der Inquisitorin war – zugegeben: gut gespielte – Fassade. Vor ihr saß niemand, der als Agent für irgendwelche Shariten, Ghaunadaur-Kulte oder die Jaezred Chaulssin einen großen, langfristigen Plan mit Barrighym verfolgte. Wäre es so gewesen, dann hätte Haus Avithoul an diesem Ort nicht mehr existiert und auch kein neuer Tempel für die Spinnenkönigin. Nein, Tenszar war ein Geschäftsmann, ein Opportunist durch und durch. Er hatte überlebt und er verfügte – in gewissem Umfang – über weltliche Macht. Das ließ sich honorieren und stand den Dogmen von Lolth so erstmal nicht im Weg. Dass es an einem ihn beherrschenden Matriarchat fehlte, war ihm nicht zuzuschreiben. Das waren eben die Umstände. In seinem Handeln blieb ihm vor allem das vorzuwerfen, was so das Problem vieler Opportunisten war: Naivität. Getragen von Angst vor Machteinbuße und dem Heischen auf Wohlstand hatte er verschiedene Entscheidungen getroffen, die teils töricht, teils fahrlässig waren. Er hatte geschachert und Karten im Ärmel behalten, die nach und nach herausfielen. Nun saß er hier, als kleines Männchen hinter einem viel zu großen Schreibtisch und konnte sich immernoch nicht zur ganzen Wahrheit durchringen. Allein: was konnte er noch verbergen, das die Entscheidung der Inquisitorin in die eine oder andere Richtung beeinflusst hätte?
Also: hatte er Folter und Tod verdient? Ja, zweifelsohne. Es war nicht die Aufgabe der Inquisitorin, politische oder wirtschaftliche Aspekte, diplomatische Beziehungen oder Handelsinteressen zu berücksichtigen. Sie diente allein der Dunklen Mutter und mit dem Mandat ihrer Mutter Oberin. Tenszar trug eine Mitschuld am Tod Alezêas…
… und genauso Haus Avithoul. Ganz bestimmt der Gnom. Ebenso diese Beliss. Die Diebe, über die Malyks Geschenk an Alezêa gelangt war. Dazu diverse Karawanenangehörige. Der damalige Klerus der Spinnenkönigin in Barrighym. Und damit und vor allem Alezêa.
Wenn sie sich nun Tenszar aus dieser Gemengelage herausgriff und ein Exempel statuierte: was war damit gewonnen? Barrighym würde erneut destabilisiert werden. Haus Teh’Kinrellz konnte das bestehende Vakuum nicht füllen und Haus Avithoul, obgleich schon länger am Ort, war alles andere als ein Garant von Stabilität. Am Ende würde vielleicht wirklich eine der radikalen Gruppen an die Macht drängen, die Haus Avithoul vernichten und den Tempel schleifen würden.
War es angemessen, dass der Yril’Lysaen leben durfte? Nein. War es angemessen, ihn für die Interessen der Kirche am Leben zu lassen? Ja.
Vierice erhob sich. Tenszar tat es ihr instinktiv gleich. Und so urteilte die Inquisitorin und ergriff endlich das Wort.
„Aluve‘, Gildenherr. Aller Ruhm gebührt der Dunklen Mutter.“
Der Leibwächter
„Herrin?“
Unsicher drang die Wisperstimme in die nicht abschätzbare Tiefe des Raumes. Sie wurde mutmaßlich schon auf den ersten Schritten verschluckt vom dichten, stehenden Nebel, der dick den Raum anfüllte wie einen Destillierkolben.
Der Sargtlin schluckte. Irgendwo in diesem unheimlichen Dunst befand sich die einstmals so pragmatische Yathrin, deren Schutz ihm und dem halben Dutzend anderer, übrig gebliebener Leibwächter seit der Ankunft in Barrighym oblag. Er konnte sich nicht an diese abstrakte Situation gewöhnen, die nun schon eine gefühlte Ewigkeit andauerte.
Bildhaft erinnerte er sich daran, wie das Martyrium der Priesterin - und damit auch das seine - einen jähen Anfang genommen hatte. Es war keine reguläre Veranstaltung im alten Tempel gewesen. Zeremonienmeisterin Xaere und seine Herrin, die Yathrin Azreta, hatten sich bereits seit einiger Zeit skeptisch gegeben und waren überzeugt, dass der fortschreitende Fanatismus der Yathallar Alezêa einen üblen Ausgang nehmen würde. Es hatte sich nur die Frage gestellt, ob diesem Ende nachzuhelfen war.
Azretas Leibwächter erinnerte sich weiter zurück. Als seine Herrin Azreta, Xaere, Faeryl und die spätere Yathallar Alezêa, gestützt durch das vormals weitgehend gechasste Haus Avithoul, in einem blutigen Streich die Herrschaft in Barrighym übernommen hatten. Später war Alezêa mit dem Segen Lolth‘ zur Yathallar geworden.
Stand es ihm zu, Urteile zu fällen? Noch vor einer Weile hätte er es nicht gewagt, die Entscheidungen der Yathrinnen anzuzweifeln. Nicht weil er sich nicht seines eigenen Verstandes bedienen, interpretieren und Schlüsse ziehen konnte, sondern es nur Ärger mit sich brachte, wenn der Zahn der Skepsis an einem nagte. Diese Einstellung hatte selbst nach den irren Geschehnissen rund um die Zeremonie angehalten. Doch mit den Monaten, die verstrichen, so zurückgeworfen auf sich selbst und die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation konnte er die geistige Abschottung gegen all die Fragen, die sich ihm aufdrängten, nicht mehr aufrechterhalten.
Rückblickend hatten sich die vier Priesterinnen vielleicht zu sehr auf dem Erfolg ausgeruht, waren davon ausgegangen, dass die Machtdemonstration allein ausreichte, um die Bewohner des Ortes in einem hörigen, produktiven Status zu beschäftigen. Xaere war Zeremonienmeisterin des Tempels geworden, Faeryl hatte sich in Studien und Schriften vergraben, während die Yathallar sich in Dekadenz erging. Seine Herrin, Azreta, war seit jeher eine gesetzte, ruhige, aber auch undurchschaubare Person gewesen. Der Leibwächter wusste, dass auch Azreta nicht frei von Ambitionen war. Hätten sich jene jemals entfaltet, wäre Barrighym heute ein anderer Ort. Doch ab einem gewissen Punkt war seine Herrin selbst erratisch geworden. Den Grund dafür konnte er benennen, aber ihn zu begreifen, war ihm ungleich schwerer gefallen.
Dass Yathrin Azreta zu ihrer Glaubensschwester Xaere eine sehr enge Bindung unterhielt, mochte in Anbetracht der Wirren der Geschehnisse nachvollziehbar sein. Während Faeryl sich in den Büchern verlor und Alezêa entrückte, schien es notwendig, eine Allianz aufrechtzuerhalten. Aber bald schon hatte der Wächter begriffen, dass es nicht um das Schicksal Barrighyms ging oder die Machtausweitung der Häuser Qua’lassar oder D’guttu, sondern eine abseitigere, intimere Form des Zusammenseins.
Doch damals hatte er weggesehen. Zumindest äußerlich. Blickt er heute zurück, so versuchte er, krampfhaft zu verstehen, was die beiden Yathrinnen verband, doch wie hätte er verstehen können, was sich durch reines Beobachten nicht nachvollziehen ließ und sich jeden Erfahrungsraums entzog? Die gegenseitige Abhängigkeit von einer anderen Person, bar jeder Rationalität, jede Schwäche offenbarend, vollkommene Angreifbarkeit, dem Selbst entsagen – das musste wohl Liebe sein.
Und während sich die obsiegenden Priesterinnen ihren persönlichen Gelüsten hingaben, erstarkte Haus Avithoul. Welch tumbe Ironie. Der Leibwächter kam nunmehr nicht umhin, die Lachhaftigkeit all dieser Geschehnisse zu sehen. Die Avithouls vertrieben, durch Emporkömmlinge ersetzt, die dann geschlagen wurden durch die geballte Macht des Klerus Lolth‘, um am Ende was zu bewirken? Haus Avithoul herrschte in Barrighym. Das konnte sich niemand ausdenken.
Und Xaere versuchte sich im Tempel. Der Leibwächter musste eingestehen – und für dieses Bekenntnis wäre ihm alle Strafe gewiss und jede Pein gerechtfertigt -, dass Xaere die im Glauben aufrichtigste, gestrengste, unanfechtbarste war. Wäre Xaere anstatt Alezêa zur Yathallar geworden, hätte es eine Stärkung des Glaubens und eine Kontrolle des Hauses Avithoul hervorgebracht. Und wer weiß… vielleicht hätten sich in dieser Situation die Absichten seiner Herrin doch noch in Taten gewandelt. So wenig Azreta auch für Gespräche und Kontakte übrighatte und obgleich sie es niemals direkt geäußert hatte… Filrean Avithoul wäre der Bündnispartner gewesen, mit dem ein Gestalten, eine Neuinterpretation, möglich gewesen wäre.
Der Leibwächter kam nicht umhin, Filrean zu hassen. Es war die Art von Hass, die sich aus Missbilligung und Neid ergeben musste. Ein schwächliches Konstrukt eines Magiers, das Priesterinnen überdauerte und Fäden zog, von denen man nichtmal wusste, dass sie existieren. Barrighym war ein verkommener Ort. Und doch, Azreta - wäre sie nur ein bisschen aufgeschlossener gewesen: vielleicht hätte Filrean der örtlichen Idiotie des Hauses Avithoul entsagt? Dem Leibwächter kam es abstrakt vor, aber der Gedanke allein! Dieser (schwächliche, knöcherne, traurig) Mann hätte sich von seinem Haus losgesagt. Für eine höheres Ziel, männliche Selbstbestimmung! Ja, jetzt, jetzt schien es möglich… man hätte sich aller entledigt: der Yathallar, der Avithouls…
… Xaere? Schwierig.
Die Gedanken des Leibwächters waren ein Für und Wider. Sie konnten zu nichts von Bewandtnis führen. Zu guter Letzt blieb einzig die Realität. Haus Avithoul war erstarkt, die Priesterinnen jenseits von allem und diese ganze Nicht-Situation hätte andauern können, aber dann kam die Karawane und irgendwann drehte Alezêa, die Favoritin, die letztliche Yathallar, durch.
Und da hatten sich Xaere und Herrin Azreta aus der Starre gelöst. Sie waren nicht ohne Kontakte. Und sie mussten nichtmal jene bemühen, um vom Irrsinn Alezêas zu erfahren. Denn Alezêa tat es den Yathrinnen, die vor wenigen Jahren noch die Herrschaft über Barrighym proklamiert hatten, ohne weitere Fragen kund. Sie hatte Shry Avithoul schriftlich aufgefordert, eine Person zu opfern. Eine Wahl, die vollkommen willkürlich und geistlos war. Und ja – mittlerweile durfte er das denken und durfte so urteilen. Er konnte sich dem nicht mehr verschließen.
Diese verdammte Teh’Kinrellz-Schlampe war zu blind gewesen, um zu erkennen, dass ihre Dienerinnen und Diener langsam selbst an ihr zweifelten. Es war – sehr spät – durchgedrungen, dass sie Shry vor ein Ultimatum gestellt hatte: irgendeine T‘rissrae, Filrean oder… ja, Azreta. All das hatte sich erst nach den Ereignissen im alten Tempel offenbart, aber ausgerechnet Filrean und Azreta als Bündnis gleichzeitig loszuwerden und den irrationalen Hass von Xaere auf sich zu ziehen? Das war fast schon pragmatisch. Und dennoch…
Was zu jener Zeit in Alezêas Kopf vorging, war unmöglich zu erschließen. Nach Dafürhalten des Leibwächters - jetzt, wo er sich eigenes Urteilen erlaubte – war die Priesterin einfach nur vollkommen geistesgestört. Und selbst ohne die heutige Kontemplation war ihm nicht entgangen, dass Xaere und seine Herrin sich darüber berieten, wie sie – ohne die vergeistigte Faeryl, ohne das Haus Avithoul – die ehemalige Komplizin beiseiteschaffen konnten.
Er selbst wusste nie, wie weit die Pläne gediehen waren, an jenem Tag im Tempel. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass die Yathallar selbst die Opferung hatte durchführen wollen und wie aufgebracht die eigentlich ruhige Xaere gewesen war, der solche Akte eigentlich zustanden. Azreta hatte versucht, die Zeremonienmeisterin zu beruhigen – auf sehr dröge, nüchterne Art – und am Ende hatten sie alle im Tempel gestanden, während Alezêa sich ereiferte.
Was dann geschehen war, hatte sich eindrücklich in den Geist des Leibwächters gebrannt, obwohl er es wohl nie ganz begreifen würde. Das Kohlenbecken explodierte. Und als Xaeres Hals durchgeschlitzt wurde, war ihm irgendwie klar gewesen, dass seine Herrin jetzt schwächer war als er. Er und die anderen Qua’lassar-Wächter hatten sie letztlich aus dem Tempel rausgezerrt. Xaere war tot, Faeryl war tot, Alezêa war tot. Azreta war die einzige der vier Yathrinnen, die übrig geblieben war.
In jenem Moment war Azreta Qua’lassar die einzige - und dem Anspruch nach - legitime Herrscherin von Barrighym. Solange man die faktischen Machtkonstellationen ignorieren konnte. Wie auch immer es um jene bestand. Hätte er sich damals fragen müssen, wer Barrighym wirklich kontrollierte, dann gehörte dazu mittlerweile keine Frau mehr. Es gab Filrean und Tenszar.
Jede, wirklich jede maßgebliche Frau in Barrighym hatte versagt, war gescheitert, gestorben oder hatte das Weite gesucht. Was blieb, war Stagnation. Und für ihn bedeutete das: Starren in den Dunst. Er konnte sich seines Verstandes bedienen, wie er wollte, aber schlussendlich blieb diese Errungenschaft bedeutungslos. Er würde herkommen, Essen bringen und es würde nichts passieren.
Doch an diesem Zyklus geschah etwas. Etwas, das die Starre durchbrach. Seine Herrin schnellte heran aus dem Nichts. Beinahe wäre ihm das Herz stehen geblieben, als die schmächtige Gestalt aus dem Nebel auftauchte. Allein der knöcherne Anblick seiner Yathrin schauderte ihn. Die eingesunkenen Augen starrten ihm entgegen, glänzend-glasig und entrückt.
„Die neue Yathrin, bring sie her. Es bebt… alles bebt, fühlst du es nicht?“
Azreta sank nieder. Der Leibwächter sah sich dem Wahn seiner Herrin hilflos ausgeliefert.
„May….may….mayi…ra…my…..“, stammelte seine Herrin. Azreta raufte sich die fettigen, ungewaschenen Haare. Sie raffte sich auf, doch blieb auf den Knien und starrte ihrem Leibwächter entrückt entgegen. „Bring sie her… Er kommt. Er kommt. Er ist das Ende.“