Nachdem es im Kerker zu Lisfar zu einem erschütternden Vorfall gekommen war, wurde einige Tage eine Anklageschrift veröffentlicht, die am 18. Hammer 1378 TZ in dieser Fassung ausgehängt wurde.
Die alte Anklageschrift fand sich nur noch in den Akten der Garde und des Gerichts.
Anklageschrift gegen Sevinus Holt
Dem Beklagten wird vorgeworfen, der des Hochverrats beschuldigten Elma Pfrund, am 4. Hammer 1378 TZ Beihilfe bei der Beendigung ihres Lebens geleistet zu haben, indem er ihr seinen Gürtel aushändigte, mit dem sie sich schließlich selbst in ihrer Zelle richtete.
Der Beklagte wird damit beschuldigt, bestehende Ermittlungen gegen Pfrund behindert und sich seinerseits des Hochverrats verdächtig gemacht zu haben. Eine länger währende Bekanntschaft mit Pfrund legt überdies Kenntnis über ihren Zustand und ihre Absichten nahe. Aus der Gemengelage ergeben sich folgende Anklagepunkte:
- Pflichtverletzung hinsichtlich Meldung einer strafbaren Handlung §1.3 OGfHL
- Beihilfe zum Mord gemäß §3.1 OGfHL
Aus einer Pflichtverletzung gemäß §1.3 OGfHL bezüglich des von Pfrund geplanten Attentats auf Mitglieder des Rates ergibt sich ferner der Verdacht des Hochverrats gemäß §2.1 OGfHL. Das Unterbinden weiterer Ermittlungen durch die Beihilfe zum Ableben der Pfrund gemäß §3.1 erhärtet diesen Verdacht und ist, unabhängig von den offenzulegenden Motiven Holts, als Akt zu begreifen, der einem Hochverrat gleichkommt.
Eventuelle disziplinarische Maßnahmen gegen Sevinus Holt als Gardist obliegen der Stadtgarde. Die entsprechenden Verfahren ruhen, bis eine Verurteilung Holts erfolgt ist.
Es handelt sich ausdrücklich nicht um einen Hochverratsprozess, da ein jener nur durch den Rat verhandelt wird. Die Anklage versteht den Prozess als vorbereitendes Verfahren, vorbehaltlich des zu fällenden Urteils oder einer weiterführenden Ermächtigung des Gerichts durch den Rat der Stadt Lisfar.
gezeichnet
Evora von Stetten
Justiziarin zu Lisfar
Vertreterin der Anklage
Auch folgendes gesiegeltes Schreiben wurde öffentlich gemacht und war in der Ratshalle, der Stadtgarde und der Hafenmeisterei einzusehen:
Hiermit bestätigt das Gericht zu Lisfar mit Wirkung zum 6. HAMMER 1378 TZ die Betätigung des Herrn RENARD MORVAN als Rechtsgelehrter und Advokat. Diese Tätigkeit darf nicht im Namen der Stadt oder ihrer Einrichtungen ausgeübt werden. RENARD MORVAN agiert als private Person und hat keinerlei vom Gesetz gedeckte, gesonderte Verfügungsgewalt.
Die Einrichtungen Lisfars sind verpflichtet, ihm Zutritt zu jenen zu gewähren, die er vertritt und ihn in seiner Tätigkeit, solange sich jene im Rahmen der Gesetze bewegt, nicht zu behindern.
Diese Verfügung erlischt am 6. ALTURIAK 1378 TZ. RENARD MORVAN ist durch ein Schriftstück, das dieser Verfügung inhaltlich und in der Aufmachung gleicht, angehalten worden, sich auf Wunsch auszuweisen. Der Verdacht auf eine missbräuchliche Verwendung des Dokuments oder Zweifel an der Identität des Vorzeigenden ist unverzüglich der Stadtgarde oder einem Vertreter des Gerichts zu melden.
Gezeichnet und gesiegelt durch die Gerichtsbarkeit zu Lisfar,
vertreten durch Seine Gnaden, Richter Hagen Alton
Ein weiterer Aushang des Gerichts wurde an den öffentlichen Plätzen der Stadt angebracht:
Schöffen gesucht!
Für den anstehenden Prozess gegen Sevinus Holt wegen Beihilfe zum Mord, Pflichtverletzungen als Bürger Lisfars und des Verdachts auf Hochverrat werden zwei Schöffen gesucht, die unter Vorsitz des Richters Hagen Alton zu einem Urteil gelangen sollen.
Die Schöffen verpflichten sich, für die noch unbestimmte Zahl an Verhandlungstagen im Gericht anwesend zu sein. Bei Unabkömmlichkeit kann – in Absprache mit Richter Alton – ein Stellvertreter benannt werden.
Mitglieder der Stadtgarde oder anderer Institutionen Lisfars werden als Schöffen nicht berücksichtigt. Bewerbungen werden schriftlich angenommen. Dabei sind der Name anzugeben, die Profession und eine Anschrift. Auch jene, die bislang nicht die Bürgerschaft Lisfars innehaben, können sich bewerben. Aus den schriftlichen Bewerbungen wird eine Vorauswahl getroffen. Die in Betracht gezogenen Personen werden dann vom Gericht angeschrieben und zu einem Gespräch geladen.
Die Namen der in diesem Verfahren ermittelten Schöffen werden entsprechend zeitnah zur Auswahl bekannt gegeben.
gez. Kaspar Terft
Gerichtsdiener zu Lisfar
Evora von Stetten würde eine kurze Nachricht von Prix erhalten:
Sehr geehrte Justiziarin von Stetten,
hatte meine Unterredung mit Advokat Morvan und Ihm die Bitte zur Befragung Holts im Beisein der Anklage & der Verteidigung mitgeteilt.
Zur weiteren Terminfindung gedenkt Er nach einer Unterredung mit dem Angeklagten nun Kontakt zu Euch aufzunehmen.
gez. Jonathan Prix
Leutnant der Garde zu Lisfar
Einige Tage nach der Veröffentlichung der Anklageschrift gegen Sevinus Holt wurde eine neue Fassung publik gemacht:
Anklageschrift gegen Sevinus Holt (Fassung vom 18. Hammer 1378 TZ)
Dem Beklagten wird vorgeworfen, die des Hochverrats beschuldigten und im Kerker Lisfars befindliche, ihm schutzbefohlene, geistig verwirrte Elma Pfrund, am 4. Hammer 1378 TZ, durch das Reichen seines Gürtels genötigt zu haben, ihr Leben zu beenden, was die Inhaftierte in Folge ihrer geistigen Umnachtung tat und sich schließlich selbst, aber nicht aus freiem Willen in ihrer Zelle richtete.
Einhergehend damit wird der Beklagte beschuldigt, bestehende Ermittlungen gegen Pfrund behindert und sich seinerseits des Hochverrats verdächtig gemacht zu haben. Eine länger währende Bekanntschaft mit Pfrund legt überdies Kenntnis über ihren Zustand und ihre Absichten nahe und damit ein Motiv, Pfrund zum Schweigen bringen zu wollen. Aus der Gemengelage ergeben sich folgende Anklagepunkte:
Pflichtverletzung hinsichtlich Meldung einer strafbaren Handlung §1.3 OGfHL in mindestens zwei Fällen
Mord gemäß §3.1 OGfHL
Aus einer Pflichtverletzung gemäß §1.3 OGfHL bezüglich des von Pfrund geplanten Attentats auf Mitglieder des Rates ergibt sich ferner der Verdacht des Hochverrats gemäß §2.1 OGfHL. Das Unterbinden weiterer Ermittlungen durch die Ermordung Pfrunds gemäß §3.1 erhärtet diesen Verdacht und ist, unabhängig von den offenzulegenden Motiven Holts, als Akt zu begreifen, der einem Hochverrat gleichkommt. Der Schuldvorwurf des Mordes ergeht sich aus der Nötigung, indem der Angeklagte seine Machtposition und den Zustand Pfrunds ausnutzte, um sich ihrer zu entledigen.
Eventuelle disziplinarische Maßnahmen gegen Sevinus Holt als Gardist obliegen der Stadtgarde. Die entsprechenden Verfahren ruhen, bis eine Verurteilung Holts erfolgt ist.
Es handelt sich ausdrücklich nicht um einen Hochverratsprozess, da ein jener nur durch den Rat verhandelt wird. Die Anklage versteht den Prozess als vorbereitendes Verfahren, vorbehaltlich des zu fällenden Urteils oder einer weiterführenden Ermächtigung des Gerichts durch den Rat der Stadt Lisfar.
gezeichnet
Evora von Stetten
Justiziarin zu Lisfar
Vertreterin der Anklage
Dem Gericht und der Verteidigung, also Renard Morvan, würden für den anstehenden Prozess zwei Liste zugetragen. Die entsprechenden Zeugen erhielten eine offizielle Vorladung entsprechend der Verhandlungstage, an denen sie aussagen sollten. Es mussten weder alle Beweismittel im Verfahren selbst zum Einsatz kommen noch alle aufgeführten Zeugen vernommen werden. Außerdem mochten sich im Laufe des Prozesses weitere Zeugen finden, die für eine Befragung im Zeugenstand infrage kamen. Selbstverständlich stand es der Verteidigung frei, selbst Beweismittel einzubringen und Zeugen zu benennen.
Beweisstücke der Anklage
A-A – Elma Pfrunds Tagebuch
A-B – Dienstakte des Sevinus Holt
A-C – Bericht zum Attentat auf die Stadträtin Morgentau vom 23. Nachtal 1378 TZ
A-D – Gürtel von Sevinus Holt
A-E – Bericht zu Symbolen im Hafen vom 16. Hammer 1378 TZ
A-F – Bericht mit der Aussage von Sarah Morgentau zu Symbolen im Hafen vom 17. Hammer 1378 TZ
A-G - Protokoll der Befragung des Sevinus Holt vom 17. Hammer 1378 TZ
Zeugenliste der Anklage (Reihenfolge der Zeugenaufrufe noch offen)
- Ilmater-Priester Riban
- Hauptmann Aldric Eisenfaust
- Gardist Larcen
- Sarah Morgentau
- Rekrut Fredo Milton
Protokoll der Befragung des Sevinus Holt
Datum: 17. Hammer 1378 TZ
Ort: Stadtgarde zu Lisfar, Verhörraum
Anwesenden:
- Evora von Stetten (EvS), Justiziarin und Vertreterin der Anklage
- Sevinus Holt (SH), Beklagter
- Renard Morvan (RM), Verteidiger
- Kaspar Terft, Gerichtsdiener (Protokoll)
EvS: Herr Holt, beginnen wir mit etwas allgemeineren Fragen. Ihr seid seit 1368 Taliser Zeit Mitglied der Garde, also seit bald zehn Jahren.
(Anm. des Protokollanten: Der Beklagte nickt.)
EvS: Was hat Euch bewogen, Mitglied der Garde zu werden?
SH: Ich brauchte eine Arbeit, die was abwirft. Ich war damals...
EvS: ... frisch vermählt? Aber jetzt seid Ihr es nicht mehr. Wie kam es dazu, dass die Ehe in die Brüche gegangen ist?
SH: Wir haben... uns auseinandergelebt, wie man so sagt.
EvS: Ihr habt Euch um Lisfar verdient gemacht, aber der Aufstieg zum Leutnant blieb Euch verwehrt. Das muss frustrierend gewesen sein...
SH: Andere haben weniger getan und sind befördert worden.
EvS: Andere wurden aber nicht mehrfach wegen Trunkenheit gemaßregelt.
SH: Ich bin schon ein paar Jahre trocken.
EvS: Aber damals hat es Euch den Aufstieg verwehrt... oder war zumindest ein Punkt.
SH: Tja, Pech gehabt...
RM: Inwiefern ist seine nicht erfolgte Beförderung eigentlich von Belang?
EvS: Ich würde gern wissen, wie sich Herr Holt damit gefühlt hat, nicht befördert zu werden. Möglicherweise hat das für Frustration gesorgt, war womöglich, zusammen mit der Trunksucht ein Grund für das Scheitern der Ehe. Ihr scheint wütend zu werden. Verzeiht, dass ich Euch in diesem Punkt so nahetreten muss, aber ich kann mir vorstellen, dass Ihr ziemlich wütend wart, auch damals.
SH: Ich war jedenfalls nicht begeistert.
RM: Ich ahne, worauf Ihr hinauswollt, aber dann solltet Ihr Euch mal fragen gegen wen sich die Wut gerichtet haben könnte, mal ganz abgesehen von sich selbst. Und dann wird Euch auffallen, dass es niemand ist, der in dieser ganzen Geschichte von Belang ist.
EvS: Sehr gut. Dann frage ich auch direkt: Gegen wen - außer Euch selbst - richtete sich die Wut... Eure Vorgesetzten? Eure Kameraden, die vor Euch aufstiegen?
SH: Ich war einfach wütend. Reicht das nicht? Manchmal auf alles und jeden... das kennt doch jeder.
EvS: Auf alles und jeden. Auch auf Gardist Larcen, nehme ich an...
RM: Zwischenfälle unter Gardisten sind nicht derart ungewöhnlich. Wenn man zusammen dient, egal ob in der Armee oder der Wache, geht man sich irgendwann einfach auf die Nerven. Da braucht es nichtmal Wut.
EvS: In dem Fall wart Ihr aber wütend, Herr Holt. Der Konflikt mit den Zentarim bahnte sich an. Und Ihr habt Euch in Gegenwart des Gardisten abfällig über den Stadtrat und die Besetzung der vakanten Position durch Frau Schattentor geäußert. Ist das korrekt?
RM: Geteilte Meinungen über einzelne Personen sind nicht unbedingt ungewöhnlich. Mal davon ab, wurde der Vorfall von Seiten der Garde aus geklärt, wie es in der Dienstakte ja steht. Für Details zu dem Vorgang könnt Ihr auch mit dem damals Verantwortlichen sprechen, der Euch gewiss gern die nötigen Details nennen wird.
EvS: Ihr wollt also nicht darauf antworten, Herr Holt.
RM: Muss er nicht, da Eure Fragestellung meiner Meinung nach sehr zielgerichtet ist. Mir wäre ein weniger suggestiver Ansatz da auch sehr lieb, es sei denn, Ihr legt es darauf an, diesem Raum hier alle Ehre zu machen und die Antworten erzwingen, die Ihr hören wollt
EvS: Hattet Ihr jemals Kontakt zu Leuten, die sich in Bezug auf die Behörden Lisfars oder dem Stadtrat abfällig geäußert haben?
SH: Ich bin Gardist. Kontakt zu solchen Leuten ist da quasi Alltag.
EvS: Ich meinte als Privatperson, Herr Holt. Habt Ihr je Kontakt zu aufwieglerischen Personen gehabt, zählen Leute zu Eurem Bekanntenkreis, die Lisfars Institutionen feindselig gegenüberstehen?
SH: Nein.
RM: Wie definiert Ihr aufwieglerisch? Zählen abfällige Äußerungen dazu? Was ist abfällig? Ist Kritik am Rat schon ein Problem? Könnt Ihr diese Frage vollkommen überzeugt mit "nein" beantworten? Kennt Ihr jeden in Eurem Bekanntenkreis so gut, um das abschätzen zu können?
EvS: Es ist eine Sache, eine Meinung zu äußern. Eine andere Sache ist es zu hetzen oder Mittel zu ergreifen, die öffentliche Ordnung zu gefährden. Da werdet Ihr mir wohl zustimmen, Herr Morvan. Kennt Ihr dieses Symbol?
(Anm. des Protokollanten: Darstellung des Symbols im Hafen wird gezeigt.)
SH: Nein.
RM: Beantwortet aber nicht meine Frage nach Eurem Bekanntenkreis
EvS: Für's Protokoll... die Justiziarin verkehrt privat nicht wissentlich mit Aufwieglern, Rebellen, Revolutionären, Fanatikern, Aggressoren oder Möchtegern-Usurpatoren. Seit wann wart Ihr mit Elma Pfrund bekannt?
SH: Seit acht Jahren oder so.
EvS: Also nicht wesentlich weniger, als Ihr Jahre als Gardist vorweist. Ihr kanntet Ihren Mann, Ardomo Pfrund, wart mit ihm befreundet?
SH: Ja. Über ihn lernte ich Elma kennen.
EvS: Ihr und Eure damalige Frau... Ihr wart alle miteinander befreundet, habt Euch gemeinsam getroffen, was Freunde eben so tun, nehme ich an...
SH: Ja.
EvS: Als Gardist Pfrund starb, habt Ihr Euch um Frau Pfrund gekümmert?
SH: Ich habe Ihr bei Reparturarbeiten und sowas geholfen.
RM: Lernt man die hohe Kunst Provokation eigentlich als erstes, wenn man Rechtsgelehrter wird oder ist das eher ein Talent?
EvS: Soll diese Frage ins Protokoll aufgenommen werden, Herr Morvan?
RM: Wenn Eure Antwort auch ins Protokoll aufgenommen wird und Herr Terft sich damit auch wohl fühlt.
EvS: So schreibt denn, Herr Terft, dass es darauf keine allgemeingültige Antwort gibt, aber sich die Justiziarin wohler fühlt, wenn ihr Talent unterstellt wird. Reparaturarbeiten... Ihr hieltet also Kontakt. Hat sie sich in Eurem Beisein jemals abfällig über den Rat geäußert?
RM: Die Frage hat er vorhin schon beantwortet, indem er Eure Frage mit "nein" beantwortet hat. Insofern stellt bitte Eure nächste Frage.
EvS: Nun, es hätte ja sein können, dass sich Herr Holt im Laufe des Gesprächs an etwas erinnert. Hat Frau Pfrund auf Euch, bevor sie hier im Kerker einsaß, einen verrückten oder wahnsinnigen Eindruck gemacht? Dass sie nicht Herrin ihrer geistigen Kräfte war?
SH: Der Tod von Ardomo hat sie mitgenommen, aber das ist wohl nichts Ungewöhnliches...
EvS: Also zeigte sich kein wahnhaftes Verhalten?
SH: Nein.
EvS: Wisst Ihr, was das ist?
(Anm. des Protokollanten: EvS zeigt dem Beklagten das Tagebuch Elma Pfrunds.)
SH: Ja. Man fand es, nachdem man Elma festgenommen hatte.
EvS: Und Ihr habt es nie zuvor gesehen?
SH: Nein.
EvS: Kommen wir zu den Ereignissen vor dem 4. Hammer dieses Jahres. Elma Pfrund war am 23. Nachtal hierher verbracht worden. Ihr wart im Dienst. Habt sie also gewiss gleich erkannt.
SH: Ja.
EvS: Wann hattet Ihr zuvor das letzte Mal Kontakt mit ihr?
SH: Anfang Nachtal.
EvS: Welchen Unterschied im Verhalten habt Ihr festgestellt? Zwischen dem Zeitpunkt Anfang Nachtal und jener Anfangszeit im Kerker.
SH: Sie war nicht Herrin ihrer Sinne. Sie war aggressiv. Zornig. Schrie viel herum.
EvS: Sie war nicht Herrin ihrer Sinne? Wie meint Ihr das?
SH: Sie war wahnsinnig, wenn Ihr es genau wissen wollt.
EvS: Wahnsinnig. Nicht Herrin ihrer Sinne. Sie musste sediert werden. Warum sediert man Leute?
RM: Zum Geisteszustand von Frau Pfrund, kann Euch der betreuende Priester genauere Angaben machen. Und zu den Abläufen bei der Verwahrung Gefangener, solltet Ihr vielleicht Auskünfte bei einem der Hauptleute einholen.
SH: Damit sie sich selbst oder andere nicht verletzen, herrje.
EvS: Da Herr Holt persönlich mit ihr bekannt war und die letzte Person war, die sie lebend gesehen hat, sind seine Einschätzungen von Relevanz. Oder wollt Ihr das in Abrede stellen, Herr Morvan?
RM: Die Einschätzungen eines Ilmaterpriesters halte ich für deutlich relevanter und aufschlussreicher und Eure Frage nach dem Grund für eine Sedierung, ließ auf ein Interesse an den Abläufen innerhalb der Garde schließen, die Euch ein Offizier deutlich genauer und ausführlicher beantworten kann als ein ausführender Gardist.
EvS: Seid unbesorgt, Herr Morvan. All diese Einschätzungen werden zum Tragen kommen. Doch hier und jetzt ist es Herr Holt, den ich befrage und dieser Befragung wurde ja zugestimmt. Aber gut. Die Leute werden sediert, weil sie wen verletzen könnten. Das heißt, es dient dem Schutz. Hattet Ihr den Eindruck, wo Ihr Frau Pfrund kanntet, dass sie jemandem - und offenbar auch Euch selbst - bewusst Schaden zufügen wollte?
SH: Nein, ich sagte doch, sie war von Sinnen!
RM: Eine Einschätzung, die von anderen Seiten ebenso bestätigt wird.
EvS: Ihr habt Frau Pfrund Euren Gürtel gegeben. Mit dem sie sich gerichtet hat. Hat sie explizit nach dem Gürtel verlangt?
SH: Nun... nein...
EvS: Was hat sie zu Euch gesagt an diesem Tagen oder an den Tagen zuvor, was Euch veranlasste Ihr den Gürtel zu geben?
SH: Es... es ging ihr nicht gut... sie war sediert. Dann nachdem die Dosis gemindert wurde, sagte sie, dass sie nicht mehr wolle, dass ich ihr helfen soll....
EvS: Dass sie was nicht mehr wollte?
SH: Ich… nicht mehr leben.
RM: Ich würde sagen, für heute reicht es.
EvS: Hat sie gesagt, explizit gesagt, dass sie nicht mehr leben wolle? Dass sie sich wünscht, tot zu sein und dass Ihr ihr dabei helfen sollt?
SH: Sie... nein.. sie...
EvS: Nein.
RM: Ich sagte, es reicht. Ihr befragt gerade jemanden, der in einer Ausnahmesituation gehandelt hat. Zeigt wenigstens etwas Respekt, denn den vermisse ich gerade ernsthaft. Und wenn Ihr eingeschüchtertes Stammeln als Antwort wertet, dann bin ich wirklich heilfroh kein Rechtsgelehrter zu sein, denn da gibt man offenbar einen gewaltigen Teil seiner Menschlichkeit ab.
EvS: Ihr appeliert an die Moral, Herr Morvan. Das gereicht Euch zur Ehre. Aber ich bin hier als Vertreterin des Gesetzes, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, die ein menschliches Zusammenleben gewährleistet. Vielleicht ist mein Moralverständnis schlicht auf einer anderen Ebene als Eures.
(Anm. des Protokollanten: EvS erklärt Befragung für beendet.)
Zwei weitere neue Zeugen wurden benannt:
Zeugenliste der Anklage (Reihenfolge der Zeugenaufrufe noch offen)
- Ilmater-Priester Riban
- Hauptmann Aldric Eisenfaust
- Gardist Larcen
- Sarah Morgentau
- Rekrut Fredo Milton
- Rufus Grimmblatt (hinzugefügt am 27. Hammer 1378 TZ)
Zeugenliste der Verteidigung (Reihenfolge der Zeugenaufrufe noch offen)
- Mirel Schaulusth (ehemals Holt) (hinzugefügt am 25. Hammer 1378 TZ)
Nach dem zweiten Prozesstag stand Lisfar Kopf. Nicht dahingehend, dass es zu Tumulten gekommen wäre, aber vom Hafen bis zur Oberstadt gab es kaum ein anderes Thema. Details hatten sich ihren Weg aus dem gut besuchten Gerichtssaal gebahnt und schlugen nun groß Wellen.
Da war die Rede davon, dass der Angeklagte, Sevinus Holt, offenbar traumatisiert war nach den Schlachten, die er geschlagen hatte. Was das jedoch mit dem Tod Elma Pfrunds zutun hatte oder gar mit Hochverrat konnte sich nicht jeder erklären, weshalb natürlich eifrig Thesen aufgestellt wurden. Die Quintessenz: Holt war offenbar verrückt. Und Verrückten konnte man keine Schuld für das geben, was sie tun, oder? Aber ehrlich… wie verrückt konnte jemand sein, der seit Jahren Tag für Tag seinen Dienst leistete und hatte nicht der Verteidiger selbst gesagt, dass Holt ein guter Gardist war? Konnte ein guter Gardist verrückt sein? Manche unkten, man müsse schon verrückt sein, um in Lisfar Gardist zu sein…
Für manche Kommentare und Äußerungen sorgte auch die Anwesenheit der Hohen Magistra Lyn im Saalpublikum, die wohl eindeutig als solche erkannt worden war und aus ihrer Haltung keinen Hehl gemacht hatte. Sie hatte eindeutig für Holt Partei ergriffen, aber das lag vielleicht auch daran, dass sie mit dem Verteidiger, Renard Morvan, liiert war.
Weitaus größere Wellen indes schlug die Aussage des Gardisten Larcen, der von einer Auseinandersetzung mit Holt berichtet hatte. Holt habe sich wohl nicht gerade wohlwollend über die Rätin Schattentor und die Entscheidung des Rates, sie zum Mitglied desselben zu machen, geäußert. Eine ehemalige Botschafterin der Zentarim – die war doch damals mit diesem „Bluthund“-Kerl in Lisfar aufgeschlagen! – die aus dem Nichts heraus Teil des Rates geworden war. Hatten sich manche damals schon gewundert, aber es relativ schnell schulterzuckend abgetan, bekam es dadurch, dass Holt sich gegen die Frau geäußert hatte und eben jene Person auch im Tagebuch von Elma Pfrund – offenbar als Hauptziel ihres Hasses – Erwähnung fand, ein besonderes Gewicht.
Hatte die Schattentor für ihren Posten im Rat Geheimnisse Zentilfestes an Lisfar verraten? Oder hatte sie sich eingekauft? So oder so schien das keine sonderlich moralische Person…
Doch wenn dies allein nicht genügen würde, war es schließlich der „Auftritt“ eines gewissen Rufus Grimmblatt, der für die heftigsten Reaktionen sorgte. Eben jener Mann, der offenbar für die seltsamen Zeichen im Hafen verantwortlich war. Angeblich hatte man den Prozess extra pausiert, um ihn als Zeugen an diesem Tag zu verhören. Worauf Justiziarin Evora von Stetten offenbar nicht vorbereitet war. Er sei mit einem Knebel vor dem Mund vor das Gericht getreten… und das offenbar aus gutem Grund.
Der Mann war offenbar auch verrückt. Zumindest verrückt genug sich in einer Weise über die Lisfarer Obrigkeit, das Gericht und alle anwesenden Vertreter der Stadt zu äußern, dass es an sich schon als Aufwiegelei oder gar Hochverrat zu betrachten war. Wenngleich seine Worte wohl bei den wenigsten Anwesenden verfingen und die meisten ihn eher als lächerlich betrachteten, war die Verwirrung dennoch groß, dass er sich so ausführlich äußern durfte. Er war immerhin Zeuge der Anklage! Was hatte sich Justiziarin Evora von Stetten dabei gedacht? Andererseits… sie wollte ihn an diesem Tag ja scheinbar gar nicht vernehmen. Und wieder andererseits… der Mann hatte glaubhaft versichert, sowohl Sevinus Holt als auch Elma Pfrund zu kennen. Mit ersterem hatte er sich wohl dereinst im Kupfertaler über den Rat ereifert (wobei wohl Alkohol im Spiel war), letzterer hatte er ein Pamphlet gegeben… es kam scheinbar nicht von ungefähr, dass Pfrund in ihr Tagebuch eben jenes Symbol gezeichnet hatte, dass sich neulich, verbreitet durch den Aufrührer Grimmblatt, an den Wänden des Hafens gefunden hatte.
Die Tiraden und Beleidigungen des Mannes kannten schlicht kein Ende. Als der Richter schließlich eine Strafe angekündigt hatte, war das Kind schon im Brunnen und der Saal kurz vorm Tumult. Gefragt nach weiteren Mitverschwörern und möglichen Anschlagsplänen auf den Rat gab sich Grimmblatt kryptisch und während einige das abtaten und darauf verwiesen, dass der Kerl nur Unruhe stiften wollte, gaben sich manche durchaus besorgt und fürchteten, dass in all dem Geschwafel doch ein gefährlicher Kern steckte oder ein anderer Verrückter nun auf die Idee kam, Pfrund nachzueifern…
Man würde das Schlussplädoyer der Anklage später in den Protokollen einsehen können:
Sevinus Holt ist dafür verantwortlich, dass die einzige Zeugin, die ihn in diesem Prozess hätte entlasten können, tot ist. Und dass sein Handeln nicht folgenlos bleiben würde, wusste er. Da stellt sich die Frage: Was nützte ihm der Tod Elma Pfrunds? Warum hat er das getan? Weil Elma Pfrund eben nicht die Person war, die ihn entlastet hätte, sondern die die Wahrheit wusste. Und die Wahrheit ist, dass er von Elma Pfrunds Absichten, gegen den Stadtrat von Lisfar zu handeln, wusste. Dass er enttäuscht und wütend darüber war, dass er in den Rängen der Garde nicht aufstieg, während scheinbar willkürlich Ratsmitglieder eingesetzt wurden. Er selbst hatte sich gegenüber einem scheinbar Fremden, Rufus Grimmblatt, schon zuvor gegen den Rat geäußert. Und er hat es Jahre später – und offenkundig nüchtern – wieder getan, diesmal gegenüber dem Gardisten Larcen.
Und nein, niemand wird in Lisfar vor Gericht gestellt, weil er Kritik am Stadtrat übt und seine Meinung sagt. Doch Sevinus Holt war Elma Pfrund mehrere Male begegnet, zuletzt Anfang Nachtal des letzten Jahres, ein paar Tage vor dem Anschlag, den sie auf Rätin Morgentau verübte. Er war mit ihr befreundet. Er war die einzige Person, die seit dem Tod ihres Mannes mit ihr in Verbindung stand und ebenso wie Elma Pfrund hegte er eine Abneigung gegen die Stadträtin Schattentor und den Stadtrat. Und da sollen wir nun wirklich glauben, dass die beiden sich nicht dazu ausgetauscht hätten? Dass er nicht zumindest den Verdacht haben musste, dass Elma Pfrund ihren Worten und Denkweisen Taten folgen lassen würde?
Sevinus Holt hat es nie angezeigt. Nicht gegenüber dem Ilmater-Priester Riban und nicht gegenüber seinen Vorgesetzten. Der Zivilist Sevinus Holt, der laut Gesetz verpflichtet ist, kriminelle Handlungen und das schließt den Verdacht, einem Mitglied des Stadtrats könnte Schaden zugefügt werden, mit ein, hat seine Pflicht als Bürger nicht erfüllt. Warum? Weil er ihre Ablehnung teilte. Und er hat ein weiteres Mal seine Pflicht als Bürger und Gardist nicht erfüllt, als er auf Elma Pfrund im Kerker traf. Statt seinen Vorgesetzten die eigene Befangenheit zu melden, hat er sich wissentlich und willentlich in die Situation begeben. Warum? Weil er Elma Pfrund im Blick behalten wollte, denn sie konnte jederzeit – in ihrem Zustand des Wahns, den der Ilmater-Priester, Hauptmann Eisenfaust und Holt selbst eingeräumt haben – auf Sevinus Holt zeigen oder ihn, wäre sie wieder zu Verstand gekommen – als Mitwisser benennen und mit ihm auch Rufus Grimmblatt, der – und da fällt es schwer, an Zufälle zu glauben – sowohl mit Pfrund als auch Holt in der Vergangenheit Kontakt hatte.
Und das konnte er nicht zulassen. Also hat er die geistige Verwirrung Elma Pfrunds ausgenutzt, die weder durch Äußerungen im Kerker, noch in ihrem Tagebuch, noch gegenüber dem Priester Anzeichen von Selbstmordabsichten hegte. Aus seiner überlegenen Position heraus, die ihm seine Tätigkeit als Wache und als vermeintlicher Freund Elma Pfrunds gewährte, gab er ihr – ungefragt – seinen Gürtel. Wir können uns schwerlich nur in den Kopf Elma Pfrunds hineindenken. Wie sie sich gefühlt haben muss in jenem Moment, wenn die eine Person, der sie vertraut, ihr durch das Aushändigen eines Gürtels zeigt: Es ist besser für dich, wenn du dich umbringst. *so abgeklärt und routiniert sie das Plädoyer hält, blitzt an dieser Stelle eine Nuance von Bitterkeit durch, die aber sofort wieder weicht*
Das ist kein Akt des Mitleids gewesen oder ein Trauma. Es war kein Schlachtfeld, auf dem das ganze stattgefunden hat. Wenn Holt Stress verspürte, rührte es aus seinem vorherigen Fehlverhalten und der Angst, enttarnt zu werden. Er wusste, was er tat. Er wusste, dass sein Handeln Elma Pfrund dazu nötigen würde, dem Schicksal zu entgehen, das er ihr suggerierte. Das ist Vorsatz. Und damit ist es Mord.
Dass er sich damit des Hochverrats verdächtig gemacht hat, ergibt sich aus seinem Motiv und dem bewussten Unterbinden weiterer Befragungen Elma Pfrunds, die einer anstehenden Verlegung an einen anderen Ort, wo sie seinem Einfluss möglicherweise entzogen gewesen wäre, gefolgt wären. Diese Verlegung zuzulassen, die vielleicht sogar die Möglichkeit einer Heilung geboten hätte – das wäre das Handeln eines Freundes, einer Person mit Mitleid und eines guten Gardisten gewesen.
Die Verteidigung möchte einen Freispruch erwirken. Sevinus Holt sei ein guter Gardist, der einen Moment der Schwäche hatte und den Kopf verloren hat. Eine Disziplinarstrafe würde reichen. All den offenkundigen Erkenntnisse zu seinen Motiven und Erkenntnissen zum Trotz müssten wir uns dann fragen: Wo beginnt Verantwortung für jene, die sich verpflichtet haben, diese Stadt und ihre Bürger – und mögen sie auch im Kerker sitzen – zu schützen? Und wichtiger noch: Wo endet diese Verantwortung? Wollen wir wirklich zugestehen, dass sie beim persönlichen Befinden eines Gardisten endet, dem alle Tore, sich rechtzeitig zu offenbaren, weit offenstanden? Wie sicher könnte man sich dann noch fühlen als Bürger dieser Stadt?
Aber so ist es nicht. Es war kein Affekt, der ihn verleitete, kein Moment der Schwäche. Holt hatte ein Motiv, er hatte die Position und die Mittel und er hat sie zu seinen Gunsten angewendet. Geben wir ihm nicht die Disziplinarstrafe, die er sich erhofft hat. Sondern das, auf das jeder Bürger Lisfars von einem Gericht dieser Stadt erwarten kann: Ein gerechtes Urteil und in diesem Fall kann es nur lauten: Schuldig.
Auch das Schlussplädoyer des Verteidigers fand natürlich Einzug in die Prozessakten.
Ich hatte hier eigentlich etwas vorbereitet, da ich im Gegensatz zu Frau von Stetten kein Rechtsgelehrter bin und das hier zum ersten Mal tue, wie man vielleicht gemerkt hat. Mit jedem Tag, der verstrichen ist, seitdem ich die Verteidigung für Gardist Holt übernommen habe, wurde ich mir der Bedeutsamkeit meiner Aufgabe mehr bewusst und jedes Gespräch mit ihm und jeder einzelne Verhandlungstag hat mich in meiner Entscheidung, ihn zu vertreten bestärkt.
Es wurden Fehler gemacht, es gab Ungerechtigkeiten. Krieg ist eine Anhäufung von Ungerechtigkeiten und was er aus denen, die diesen für uns alle ausfechten, machen kann, sieht man an Gardist Holt sehr gut. Die Kämpfe, die er für Lisfar ausgefochten hat, haben ihm seine Gesundheit gekostet, seine Ehe und seinen besten Freund. Und trotzdem hat er weiter gemacht, hat weiter seinen Dienst für Lisfar verrichtet. War das vielleicht auch ein Fehler? Wenn man bedenkt, wohin es ihn am Ende gebracht hat, könnte man vielleicht zu dem Schluss kommen, aber er hat es immer für das richtige gehalten und er war der erste, der meinen Plan, die Fehler des Rates und der Garde aufzuzeigen kritisiert hat!
Und es gab diese Fehler. Der Rat hat allein dadurch einen Fehler gemacht, dass er eines seiner Mitglieder ausgesandt hat um Vorfälle zu untersuchen, für die es durchaus andere Zuständige gegeben hätte. Nach dem Attentat auf Frau Morgentau wurden Fehler gemacht, denn dass ein Opfer eigenständig die Untersuchung seines Angreifers tätigt und zudem noch Mittel zur Ruhigstellung zur Verfügung stellt, ist alles andere als vorbildliches Vorgehen.
Auch auf Seiten der Garde gab es Fehler. Man war offensichtlich mit der Unterbringung Frau Pfrunds überfordert, man wusste nicht mit ihr umzugehen und man stellte genau den Mann zu ihrer Bewachung ab, der bekanntermaßen mit dem verstorbenen Mann der Gefangenen befreundet war, der mit ihm gedient hatte, der ihn auf dem Schlachtfeld sterben sah.
Und ja, auch auf Seiten Gardist Holts gab es Fehler. Er hätte seine Befangenheit melden müssen, er hätte die Aufgabe ablehnen müssen, denn er war nicht in der Lage besonnen zu handeln. Ich war selbst Soldat, ich weiß, was es mit einem macht, wenn man sieht, wie Kameraden sterben und ich bin froh, dass ich nie in einer Situation, wie Gardist Holt war...
Also ja, es gab viele Fehler. Was es aber nicht gab und auch nach drei Tagen, die wir hier waren nicht gibt, sind Beweise für das, was die Anklage als Fakt hinzustellen versucht. Es gab keinen Mord, es gab keine hintergründigen Gedanken, die Gardist Holt dazu bewegt haben, die Frau seines bestens Freundes in den Tod zu treiben. Gardist Holt wird für seine Fehler in einem Disziplinarverfahren gerade stehen, auch wenn jedem, der ihn hier erlebt hat und der den Aussagen seiner früheren Gattin gefolgt ist, wissen dürfte, dass er selbst sein härtster Richter sein wird.
Für heute, vor diesem Gericht gibt es nur ein einziges Urteil, mit dem der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann: Unschuldig
Der Grundtenor nach dem Urteil war folgender: Holt wusste wohl weder von den Absichten Elma Pfrunds, also der Frau, die auf Stadträtin Morgentau den Anschlag verübt hatte, noch war er mit Rufus Grimmblatt, dem Kerl, der für die Schmierereien im Hafen verantwortlich war und bei seiner Vernehmung vor Gericht einen denkwürdigen Auftritt geliefert hatte, im Bunde. Schuldig war er, den Tod von Elma Pfrund verursacht zu haben, aber das Schöffengericht hatte ihm wohl zugestanden, dass er dabei nicht im Stande war, vollkommen klar zu urteilen. Sein Handeln, also Pfrund seinen Gürtel zu geben, sei aufgrund einer plötzlichen, unreflektierten Entscheidung erfolgt.
Das Strafmaß lautete auf zwei Jahre Haft, was allen, die nach wie vor daran glauben wollten, dass Holt vorsätzlich und in böser Absicht gehandelt hatte und selbst denen, die ihm wohlwollend gegenüberstanden, extrem niedrig erschien. Doch jene, die bei der Urteilsverkündung zugegen gewesen waren, hatten den Angeklagten – vor Verkündung des Schiedsspruchs – als einen zutiefst gebrochenen, reumütigen Mann erlebt. Und keiner, der dabei war, glaubte, dass dies nur vorgetäuscht war.
Was nun die Beteiligten an dem Prozess betraf, so fiel das Urteil über sie ebenfalls spannend aus. Während den Schöffinnen, Agatha Uldenschlund und Leyana Auvri’rahel, Achtung gezollt wurde, in diesem doch sehr emotionalem und widersprüchlichem Prozess den Überblick behalten zu haben, galt das zwar auch für Richter Hagen Alton, aber manche, die mit dem Richter in der Vergangenheit zutun hatten, unkten, dass er wohl langsam altersmilde würde. Der Held in der ganzen Geschichte war Renard Morvan, der ohne jede Vorerfahrung als Rechtsgelehrter, einen solchen Urteilsspruch für seinen Mandanten erwirkt hatte. Dass er als früherer – und wohl auch bald erneuter – Leutnant der Garde so offen deren mögliche Fehler angesprochen und sogar den Rat kritisiert hatte, imponierte den Leuten. Manche meinten sogar, dass Morvan als Hauptmann taugen würde.
Der Rat… ja, das war ein ganz eigenes Thema. Und dazu wurden nach dem Prozess ganz eigene Fragen gestellt. Etwa wie Frau Schattentor Rätin werden konnte trotz ihrer Vorgeschichte. Überhaupt: Wie werden Ratsmitglieder ernannt und wer behält sie im Blick? Nicht wenige dachten dabei an die früheren Räte Travenhand und Barger, die sich aufgrund dubioser Verwicklungen davongemacht hatten. Auch an das Scheitern der Bürgerräte wurde erinnert. Dabei schien natürlich niemand darauf erpicht, den Auslassungen von Rufus Grimmblatt zu folgen, der die Anarchie beschwor – zumindest nicht so, dass es laut ausgesprochen wurde. Aber der Wunsch, dass sich der Rat für seine Entscheidungen, auch personeller Natur, rechtfertigen müsste, war deutlich zu spüren.
Tatsächlich betraf dies auch einen Aspekt, den Renard Morvan im Prozess angesprochen hatte: War es tatsächlich klug, Ratsmitglieder zu entsenden, wenn es möglicherweise gefahrvolle Vorfälle in der Region gab? An dieser Frage schieden sich die Geister. Während manche in Anbetracht der jüngsten Ereignisse glaubten, dass dies leichtfertig war, meinten andere, dass es durchaus angemessen war, dass die Räte bei einer überschaubaren Stadt wie Lisfar mit anpackten, selbst in gefährlichen Situationen. Niemand konnte Sarah Morgentau vorwerfen, bei dem Attentat nicht entschieden reagiert zu haben.
Und dennoch… eigentlich hätte Sarah Morgentau noch im Prozess aussagen sollen – als Zeugin der Anklage. Die Anklage selbst hatte dann aber, wenn auch etwas widerwillig offenbar, davon abgesehen. Warum? Das war die Frage. Hatte man befürchtet, dass eine Vernehmung der Rätin im Zeugenstand, insbesondere durch Renard Morvan, für eine Beschädigung der Reputation des Rates hätte sorgen können? Immerhin wäre dies wohl ein hinreichend guter Grund für die Justiziarin gewesen, doch von einer Vernehmung Morgentaus Abstand zu nehmen.
Die Justiziarin… wenn Renard Morvan der Held in dieser Geschichte war, brauchte es auch einen Antagonisten, gegen den er sich als würdig erwiesen hatte. Und diese Person war Evora von Stetten. Die junge Rechtsgelehrte, so die recht einhellige Meinung, war gegen den Improvisationskünstler Morvan untergegangen. Böswillige Zungen behaupteten, dass die Frau für das Justiziarsamt nicht geeignet war, nachdem sie so krachend an einem Laien gescheitert war. Warum eigentlich? Nunja, es hieß, dass sie keine Beweise für einen Hochverrat Holts hatte vorlegen können. Morvan hatte zwar ebenfalls keine Gegenbeweise erbringen können, aber im Zweifel hieß es eben: Für den Angeklagten. Dass ausgerechnet der Zeuge, der Holt am meisten belastet hatte, Rufus Grimmblatt, erst nach der Veröffentlichung der Anklageschrift aufgetaucht war, ließ manchen fragen, was die Justiziarin überhaupt gegen Holt in der Hand gehabt hatte.
Einige wenige Beobachter, die etwas milder gegenüber Evora gestimmt waren, und natürlich jene, die nach wie vor von der Schuld Holts überzeugt waren, vertraten hingegen die Ansicht, dass die Faktenlage zu offensichtlich war, als dass man Holt nicht den Prozess für die entsprechenden Anklagepunkte hätte machen sollen. Und wiederum einige glaubten, dass die Sache direkt vor dem Rat hätte verhandelt werden sollen.
Doch die vorherrschende Meinung, hauptsächlich jener, die nicht beim Prozess dabei waren, war die: Evora von Stetten hatte sich blamiert und diese Blamage würde ihr als Makel noch über lange Zeit anhaften. Vielleicht sollte man doch besser auf ältere und erfahrene Justiziare setzen, wenn es um Lisfars Rechtsangelegenheiten ging.
Urteil gegen Sevinus Holt
Urteilsspruch: Das Schöffengericht befindet den Angeklagten für schuldig des Totschlags aus dem Affekt und mit verminderter Schuld und der Verletzung der Bürgerpflicht. Weiterhin wird der Verdacht des Hochverrats zurückgewiesen. Da sich der Angeklagte reumütig zeigt, wird die Haftstrafe auf zwei statt drei Jahren festgelegt.
Urteilsbegründung: Das Gericht erkennt keinen einschlägigen Nachweis der Mittäter- oder -wisserschaft des Sevinus Holt im Bezug auf den Mordanschlag auf Rätin Sarah Morgentau, noch auf verräterische Pläne gegen den Rat als solchen oder ein Ratsmitglied im Speziellen. Auch sieht das Gericht keine Evidenz für eine Verschwörung des Sevinus Holt mit Rufus Grimmblatt zum Zwecke der Stadt Lisfar und ihren Institutionen zu schaden.
Das Gericht erkennt eine Schuld von Sevinus Holt an, indem jener die eigene Befangenheit und mögliche Äußerungen des Opfers, Elma Pfrund, nicht an seine Vorgesetzten meldete. Da Sevinus Holt keine Verhaltensauffälligkeiten im Vorfeld des Todes von Elma Pfrund zeigte, mithin seinen Dienst gemäß Vorschrift antrat, ist von einer grundsätzlichen geistigen Verfügungsgewalt Holts auszugehen, die sich ihm lediglich im Moment der Tat, der Aushändigung seines Gürtels, mit dem sich Elma Pfrund richtete, versagte.
Das Gericht schreibt diese Handlung aus dem Affekt dem Unvermögen Holts zu, eine klare mentale Distanz zwischen sich und der ihm zum Schutz anbefohlenen Elma Pfrund herzustellen. Als ursächlich dafür betrachtet das Gericht den Lebenswandel des Sevinus Holt. Holt ist ehemals trinksüchtig, von seiner Frau verlassen, ohne Aufstiegschancen innerhalb der Stadtgarde. Im Zuge all dessen und traumatisierender Erlebnisse im Dienst der Stadtgarde, einschließlich des Todes seines Freundes, Ardomo Pfrund, verfügt Holt nach Ansicht des Gerichts nur über einen begrenzten Lebenswillen. Als er sich Elma Pfrund gegenübersah, die einer vermeintlich ausweglosen Situation gegenüberstand, erkannte er sich selbst in ihrer Situation wieder. Im Willen, ihr einen Ausweg zu entbieten, den er sich selbst vorenthielt, gab er ihr seinen Gürtel.
Aufgrund der Beweislast geht das Gericht davon aus, dass dies ohne explizit geäußerten Wunsch von Elma Pfrund geschah. Da jene zum Zeitpunkt der Tat geistig verwirrt und nicht zu einem rationalen Urteil befähigt war, reagierte sie instinktiv, um einem vermeintlich schlimmeren Schicksal zu entgehen.
Eine Schuldunfähigkeit Sevinus Holts im Bezug auf den Totschlag kann das Gericht nicht anerkennen, da er sich der Unmittelbarkeit seines Handelns bewusst war. Von einem affektiven Handeln jedoch ist auszugehen, da er die mittelbaren Implikationen außer Acht ließ. Mittelbare Implikationen heißt hier: Eine mögliche Weiterbehandlung Elma Pfrunds mit Chance auf Genesung, damit zusammenhängend eine anstehende Verlegung aus dem Kerker der Stadtgarde in eine adäquatere Unterkunft und die Verletzung seiner Dienstpflicht. Insofern hat Sevinus Holt, obgleich im Dienst als Gardist, nicht im Bewusstsein seiner Position gehandelt, sondern als Privatmensch, womit es sich bei seiner Tat nicht um ein reines Disziplinarvergehen handelt. Damit erkennt das Gericht eine Schuldfähigkeit des Sevinus Holt an, sieht jene allerdings als vermindert an.
Die Gesetze Lisfars sehen nach §3.2 OGfHL für Totschlag eine Bestrafung mit dem Tode, Zwangsarbeit oder dem Kerker vor. Da eine verminderte Schuld festgestellt wurde, scheidet eine Todesstrafe aus. Eine Beschäftigung in Zwangsarbeit könnte Holt in Anbetracht seiner mentalen Verfasstheit zu sehr belasten oder ablenken. Das Gericht erachtet demgemäß eine Verbüßung der Strafe in Haft als angemessen, wobei das Strafmaß aufgrund aller genannten Faktoren und der glaubwürdigen und aufrichtigen Reuebekundung Holts auf zwei Jahre festgesetzt wird.
Anmerkungen von Richter Hagen Alton: Ich fordere den Rat Lisfars, die Verwaltung der Stadt und die Stadtgarde eindringlich dazu auf, angemessene Räumlichkeiten für die Verwahrung gefährdeter Gefangener einzurichten bzw. die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Des Weiteren ergeht die Aufforderung, die mentale Fürsorge für Gardisten, die extremen Situationen ausgesetzt waren, zu verstärken und weiterhin in enger Zusammenarbeit mit dem Klerus die seelsorgerische Unterstützung von Hinterbliebenen gefallener Angehöriger der Stadtgarde zu gewährleisten.
Weiterhin rufe ich den Rat Lisfars dazu auf, die eigene Entscheidungsfindung, sofern sie die offiziellen Belange der Stadt berührt, etwa durch Entscheidungen zu Personalia, transparent kundzutun, um Zweifeln und Wirrungen zuvorzukommen.
Anmerkungen von Schöffin Agatha Uldenschlund: Ich will mich den Aufforderungen von Richter Alton anschließen. Die gesamte Ereigniskette ist sehr tragisch und wäre vermeidbar gewesen, wobei ich die Umstände verstehe und keinem der Beteiligten einen Vorwurf machen möchte, dennoch sollten wir daraus Lehren ziehen, die eine Wiederholung eines solchen Falles verhindern. Ich werde selbst ebenfalls mit meinen Kollegen im Turm beraten ob speziell für die sichere Ruhigstellung und Unterbringung von psychisch gefährdeten Straftätern hier von unserer Seite aus Hilfestellung gegeben werden kann. Für die Betreuung von traumatisierten Soldaten jedoch wäre vermutlich eher ein entsprechend ausgebildeter Klerus hilfreich, etwa aus den Kirchen Helms oder Ilmaters. Es wäre zudem nicht schädlich, wenn einige Entscheidungen des Rates transparenter erfolgen würden.
Zugleich brachte dieser Prozess für uns alle erkennbar zutage, dass subversive Elemente wie Rufus Grimmblatt die Unkenntnis von Bürgern über den Hergang politischer Entscheidungen und die Verzweiflung von denen, die ein Leid erlitten hatten, wie Frau Pfrund, für die Verbreitung ihrer boshaften Propaganda ausnutzen. Dass dies aufgedeckt wurde, verdanken wir auch insbesondere der engagierten Arbeit der Justiziarin Evora von Stetten. Auch wenn Sevinius Holt selbst nicht an einer Verschwörung oder einem Hochverrat beteiligt war, müssen wir sehen, dass sich in Lisfar solche feindseligen Personen befinden und ich bin der Auffassung, dass dem nachgegangen werden sollte, damit nicht eine weitere verzweifelte Witwe oder eine Waise durch solche abscheuliche Hetzerei sich zu schlimmen Taten aufwiegeln lässt.
Anmerkungen von Schöffin Leyana Auvri’rahel: Möge dieses Urteil nicht nur als Maßnahme der Gerechtigkeit dienen, sondern auch als Gelegenheit zur Besinnung. Sevinus Holt hat gefehlt, doch in seiner Reue liegt auch die Möglichkeit der Läuterung. Es ist meine Hoffnung, dass er in der Zeit seiner Haft nicht nur die Folgen seiner Tat bedenkt, sondern auch einen neuen Pfad für sich findet – einen, der ihn aus der Dunkelheit herausführt.
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass Mitgefühl und Fürsorge grundlegende Pfeiler eines gerechten Gemeinwesens sind. Jeder, der unter der Last vergangener Entscheidungen leidet, verdient eine Chance zur Umkehr. Sevinus Holt mag gestrauchelt sein, doch der Weg zurück ins Licht steht allen offen, die ihn gehen wollen. Mögen die Götter ihm die Kraft zur Einsicht und Heilung schenken. Möge Elma Pfrund Frieden finden. Und mögen wir alle aus diesem Fall die Weisheit gewinnen, jenen beizustehen, die zwischen Pflicht und Verzweiflung ringen.
Im Namen Angharradhs spreche ich ein Gebet für Sevinus Holt, für Elma Pfrund, die ihren Frieden finden möge, und für all jene, die in Ketten liegen – sichtbar oder unsichtbar.