[Aren Jago] Andersw...
 
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[Aren Jago] Anderswo

(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

die Schatten streben lang am Rand des Feuerscheins. Das Züngeln der Flammen lässt sie sich regen und bewegen, als glitten sie hinfort, um mich sogleich wieder zu umschwirren, zu umzingeln, in ihre bedrohliche Mitte zu nehmen. Aber es ist nur das Spiel, jenes des Feuers und jenes der Schatten, das mir in dieser einsamen Stunde die Schauer über den Rücken gleiten lässt. Ich sehe die Schatten, gleich schemenhaften Konturen jener, die mich einst kannten, die ich einst kannte, bevor ihre Zeit kam. Ich lege ein Scheit nach, denn es ist kühl. Es knistert, Funken stieben und die Schatten tanzen.

Das Feuer erscheint mir wie die Erinnerung und je mehr ich es nähre, desto mehr Macht bekommt die Dunkelheit, die ohne es nur Dunkelheit wäre, aber so Kontur gewinnt. Ich sehe diese alte Frau, die immer alt war, solange ich denken kann. Sie hatte ein gütiges Lächeln und traurige Augen. Sie freute sich, wenn sie mich sah, strich mir über das Haar und ich hasste es, aber konnte mich nicht abwenden. Aus furchtvollem Respekt heraus, womöglich. Und immer wollte sie mir durch’s Haar fahren mit ihrer schrumpeligen, alten Hand und lächelte mit ihren traurigen Augen.

Dann starb sie und es traf mich sehr, weil sie doch schon immer da gewesen war. Und ich war wütend, weil ich nicht verstehen wollte, warum sie auf einmal nicht mehr da war und ich fragte meine Eltern, warum sie immer so nett zu mir gewesen ist und wie schrecklich es war, dass sie immer wieder mein Haar berühren wollte. Meine Eltern erzählten, dass sie einst einen Sohn hatte. Er starb vor so vielen Jahren, dass es jenseits meiner Vorstellung lag. Erst viel später erfuhr ich, wie er den Tod fand und deswegen ist sie nun hier. Deswegen und weil ihr Sohn rotes Haar hatte.

Da sind noch andere. Die hübsche Frau mit den mandelförmigen Augen und dem kastanienbraunen Haar, die so frech war, die zu frech war. Der unheimliche Waldläufer, vor dem sich die Kinder, auch ich, versteckten, wenn er in die Stadt kam. Er saß dann am Brunnen, schnitze kleine Figuren. Das war so seine Art, bis er irgendwann nicht mehr kam. Später erst verstand ich. Ich sehe unsere Freunde. Ich sehe hundert Fremde. Was ist ihnen geschehen, was passiert?

Meine kleinen Quälgeister spüren die Furcht in mir. Sie machen sich einen Spaß daraus. Sie wissen, wie ich hier sitze und schreibe und Schmerz fühle und wispern, als hätten die Schatten Stimmen. Stimmen, die sagen, fürchte dich nicht. Stimmen, die sagen, ich sei nicht allein, aber was wissen sie vom Alleinsein? Die Schatten wissen es. Ihre Stimmen nicht. Sie wollen mich trösten, doch es gibt keinen Trost. Es gibt nur den Weg, den Weg zu einem unklaren Ziel, auf dem mich meine Quälgeister noch geleiten, aber bald werden auch sie mich verlassen. Und du bist fern und das ist gut, aber wie kann sich, was gut ist, so falsch anfühlen? Vielleicht weil ich mich sorge um dich. Mich sorge, auch dich dereinst in den Schatten zu sehen.

Drum wandle auf sicheren Pfaden und sollten dich jene zu den Unseren führen, leg ein paar Blumen nieder, aber lass dich nicht dabei sehen.

Aren

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:02
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

Ernten.

Das Ernten war das Schlimmste. Denn kurz danach würden sie kommen. Sie würden kommen und einfordern, was ihnen nicht gehörte, wofür sie keine Mühen in Kauf, keine Strapazen erdulden mussten. Sie konnten kommen, konnten nehmen, was ihnen nicht gehört, weil sie es konnten. Sich zu nehmen, was ihnen nicht zusteht.

Einen Scheffel mehr. Und wo wir dabei sind – noch einen Scheffel mehr.

Sie kamen aus dem Ort. Sie kamen aus demselben Ort und sie beschützten ihn vor Monstern, anderen als ihnen. Sie wurden protegiert von anderen Monstern, die ebenfalls gewohnt waren zu nehmen, was ihnen nicht zustand, die ganze Region, die sie wie weite Teile Faerûns als Geisel hielten. Weil sie es konnten und teils, weil man sie ließ.

Und wo wir dabei sind – noch ein weiterer Scheffel.

Trotzig blickte Vater auf. Und ich fürchtete mich und dachte: Vater, schau nicht so trotzig. Sie stechen dich nieder. Sie verbrennen alles. Weil sie es können und weil sie das, was sie nicht nehmen konnten, lieber zerstörten. Ich sah die Furcht in den Augen meiner Mutter und ihr zornvolles Beben und ich dachte: Mutter, zeige keine Furcht, werde nicht zornig. Sie werden es sehen. Sie stechen ihn nieder. Sie verbrennen alles. Weil sie es können, weil Furcht ihr Antrieb ist und Zorn ihre Lust auf Zerstörung entfacht.

Das Ernten war das Schlimmste. Und weil das Ernten das Schlimmste war, wollte ich, dass sie ernten würden. Dass sie dereinst ernten müssten und ich es wäre, der sagte: und wo wir dabei sind – noch ein Scheffel mehr.

Aren

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:02
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Woher er die Kraft nahm, wäre ihm wohl auch selbst vollkommen unklar gewesen, hätte er sich denn damit aufgehalten, das zu ergründen. Aber er hatte schon vor ein paar Zehntagen aufgehört zu hinterfragen. Er dachte nicht einmal sonderlich viel nach, sondern hatte allein seinem Handeln das Primat im Geschehen eingeräumt. Am Anfang hatte er sich noch oft den Kopf zerbrochen, sich dann die besten Strategien überlegt, hatte sich dann rein auf’s Taktieren im jeweiligen Augenblick fokussiert, genau einen Ausgang anstrebend: zu töten. Und man konnte sagen: er hatte darin eine gewisse Kompetenz erlangt.

Natürlich… Untote hatte er mittlerweile zuhauf ihres todlosen Daseins beraubt. Auch in der Dämonenvernichtung hatte er eine gewisse Expertise erlangt. Und ja: auch Menschen hatte er getötet. Nicht nur Wegelagerer, die ihm irgendwo aufgelauert hatten, sondern auch Soldaten und sogar (vermeintliche) Zivilisten. Aber was er nun in den Wäldern zwischen Elfenbaum und Fernberg tat, hatte eine andere Dimension… quantitativ und qualitativ. Er war zu einem skrupellosen, ja beinahe gefühllosen Jäger geworden und sein primäres Ziel waren die Rotfedern Fernbergs. Kleine Patrouillen hauptsächlich oder überschaubare Lager. Als Einzelner konnte er wohl schlecht die Hauptlager der Armee angreifen. Er hatte sich darauf verlegt, viele kleine, aber schmerzhafte Nadelstiche zu versetzen.

Er schlug zu, unsichtbar, hinterließ – Dank der Gabe, die ihm zuteil geworden war – keine Spuren außer Leichen, denen man kaum ansah, was sie letztlich vernichtet hatte. Mal waren es Schwerthiebe, mal Pfeile, mal schienen sie durch schwere Hiebe getroffen, durch Säure vernichtet oder ausgezehrt durch seltsame Energien. Wer auch immer die Leichen fand (nicht alle waren wirklich zu finden), mochte womöglich annehmen, dass es eine ganze Gruppe von Personen war, die den Fernbergern hier zusetzte. Aren hatte sein Gewissen ausgeschaltet. Womöglich hätte er es sonst selbst nicht ertragen, was er da tat. Wie viel Tod er brachte, wie viele Familien durch seine Hand Angehörige verloren. Aren war nie kaltblütig gewesen, aber das Geschehen rund um Elfenbaum hatte das geändert. Der Feind war entmenschlicht. Und Aren… Aren vielleicht auch.

Selbstverständlich galt sein Handeln nicht allein den Fernbergern. Er hatte sich auch verstärkt den Untoten angenommen, ein durchaus vertrauter Feind, dessen Unnatürlichkeit Aren effektvoll mit der Macht der Natur begegnete, die – magiephilosophisch betrachtet – zwar auch in gewisser Weise unnatürlichen Ursprungs war, aber Philosophie war etwas für jene, die Zeit dafür hatten. Und die hatte Aren nicht. Aren hatte weder Zeit noch Nerven.

Er war mittlerweile kaum mehr zurechnungsfähig. Natürlich aß er ab und an und trank auch, nahm sich dafür aber nicht wirklich viel Zeit, sondern beließ es in einem Rahmen, der es gerade so zuließ, sich auf zwei Beinen zu halten. Dasselbe galt für Schlaf. Langsam aber sicher kam Aren ans Ende seiner Kräfte, körperlich und mental. Gerade die Kämpfe gegen die Dämonen waren zermürbend. Aren kannte das schon aus Evereska. Es war ein Katz- und Mausspiel. Sie konnten jederzeit aus dem Nichts zuschlagen. Hier half nur Geschwindigkeit, die Nutzung des teils unübersichtlichen Terrains, vor allem aber Nervenstärke, woran es ihm zusehends mangelte.

Aber vielleicht half es einfach, mal eine Nacht durchzuschlafen... ein paar Stunden. Dann konnte es weitergehen. Weiter mit dem Töten.

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:02
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

ich bin in Schattental. Ich töte Zentarim. Die folgten auf die Fey’ri und Dämonen und Drow, die den Fernbergern folgten.

Beim Vorbereiten für ein Töten habe ich Fjodor getroffen. Du erinnerst dich an Fjodor mit seinen Pausbacken, das Gesicht so rot, immer auf eine Weise grinsend, als hätte er einen schmutzigen Witz im Sinne. Als ich ihn wiedertraf war das Rot aus seinem Gesicht entschwunden, seine Wangen waren eingefallen. Er erkannte mich nicht, aber wie konnte er auch? Er war ja nicht mehr er und es sind Jahre vergangen. Wir sprachen kurz. Er erinnerte sich. Sagte er zumindest, aber alles, was ich sprach, schien zu ihm zu dringen wie durch eine dicke Wand aus milchig-trübem Glas.

Ich fragte ihn nicht nach Alma und den Kindern. Das war nicht nötig. Es war alles klar.

Was trieb ihn an? Er schien nicht wütend, zu wenig Ambition auf Rache. Da war nur schmerzgeborene Apathie. Ich fragte es mich. Sterben konnte man anders, wenn man das wollte. Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen.

Manchmal stelle ich mir vor, wie der Wald sich verändert. Es muss etwas tun mit dem Wald, wenn der Boden getränkt wird von Blut und anderen Absonderungen sterbender und zerfallender Körper. Wenn elementare Kräfte und dunkle Magie am Buschwerk und den Stämmen zehren. Ich träume davon, wie die Blätter in den Kronen sich blutrot färben; die Äste sich zu absonderlichen, knorrigen Formen verdrehen, sich die Rinde schwärzt. Ich blicke in diese verheerte Natur und hasserfüllt starrt sie zurück. Ich wache dann auf und weine stumm.

Keiner der Quälgeister ist hier. Nicht weit von hier begegnete ich ihnen zum ersten Mal. Würde ihre Herrin mir doch ein Zeichen senden, dass ich auf dem rechten Pfad wandle. Das denke ich mir oft und weiß doch: alles, was war, führte mich hierher; führte mich in diesen Krieg. Ich kämpfe für eine gerechte Sache. Und wenn mich zuweilen der Hass zu übermannen droht, bilde ich mir ein, dass ich aus Liebe handle. Wenn ich töte, dann töte ich mit Gleichgültigkeit. Ich glaube jetzt, dass das normal ist und aus der gefahrvollen Situation geboren wird. Würde ich in jenen Momenten zaudern und zögern, läge ich darnieder und würde den Wald mit meinem Körper nähren. Aber dazwischen, zwischen dem Töten, wenn ich mich nicht durch einen neuen und wieder einen neuen Einsatz ablenken kann, kommen die Gedanken. Und am Ende jener quälenden Momente rette ich mich mit der Rechtfertigung, dass ich zu sehr liebe, um die Orte meiner Erinnerung und die aufrechten Menschen, die dort leben, den Feinden der Freiheit, den Schlächtern der Freude zu überlassen.

Gestern begruben wir Fjodor. Er wird jetzt den Boden nähren und den Wald. Der Wald wird das ebenso wenig schätzen wie hassen. Meine Träume sind nur Träume. Ich habe bei der Beerdigung ein paar Worte gesprochen, über Fjodor, den ich nicht mehr kannte. Die anderen glaubten, wir wären Freunde, weil wir Worte gewechselt hatten. Aber ich weiß, dass Fjodor, schon als ich ihn wiedertraf, kein Freund mehr, nicht mal ein Mensch war. Er war nur noch Erinnerung.

Aren

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:03
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

es ist lange her, dass dich mein letzter Brief erreichte und es tut mir leid, sollte er zu düster gewesen sein und du dich gesorgt haben. Heute schreibe ich dir, weil ich gern möchte, dass du dir diesen Ort, an dem ich diese Zeilen schreibe, vorstellst.

Ich befinde mich auf einer anderen Existenzebene, einer Parallelebene. Sie ist die Heimat der Feenwesen, der ursprüngliche Ort, von dem sie stammen. Und nein, ich habe nicht wieder von irgendwelchen Pilzen „genascht“. Es ist real und ich bin durch ein Portal hierher gelangt. Alles hier schreit „Natur“. Es gibt wundersame Pflanzen, gigantische Pilze, leuchtende Blüten. Es könnte eine arrangierte Fantasie sein, aber es ist zu echt, zu greifbar, zu chaotisch. Es ist Leben pur.

Und es gibt Energie, sichtbare Energie und ich weiß, dass es diese Energie ist, die ich leiten und lenken kann. Ich habe die Antwort erhalten, nach all den Jahren der verzweifelten Suche. Die Gabe, die ich erhielt, lässt mich etwas von dieser Welt abzweigen und verwandeln. Ich bin dieser Welt verbunden und wie könnte ich nun, da ich dieses Ortes gewahr werde, nicht mehr als je zuvor Dankbarkeit verspüren? Egal, wo ich bin, egal, wohin ich mich bewege: ich trage diesen Ort in mir. Nicht allein durch die Erinnerung an diese Wunder, sondern in Form von schierer Kraft.

Wo immer ich wandle, wo immer ich bin, nehme ich das mit. Es ist ein erhabenes Gefühl und es ist ein leichtes Gefühl. Nach all der Zeit, in der ich nicht wusste, wie ich dieser Macht gerecht werden könnte, glaube ich nun, dass es darum gar nicht geht. Dass ich das kann, habe ich einigen Personen zu verdanken, auf die ich im Lauf der Zeit gestoßen bin, die ich nicht zuletzt hier in Lisfar kennenlernen durfte. Ich weiß nun, dass die Reise, die nach dem Tod meiner Eltern begann, einen Sinn hatte. Dass es kein verfehltes Versprechen war, das mir gegeben wurde, sondern dass mir Güte zuteilwurde. Es wurde alles eingelöst, was mir versprochen wurde und noch mehr. Ich habe dafür nichts opfern müssen außer meinem Zweifel und meiner Angst. Ich musste nur vertrauen lernen, auch mir selbst.

Ich bin zum Ursprung gelangt. Ich habe Unglaubliches gesehen. Ich habe unsagbares Leid und unendliche Liebe erlebt. Und vor noch wenigen Monaten hätte ich mich gefragt: wie geht es weiter? Was kommt nun? Und ich hätte es mit Sorge getan, mit Angst. Aber nun tue ich es voller Hoffnung, voller Sicherheit. Mein Scheitern kann mich nur hierhin zurückführen, an diesen wundervollen Ort. Doch bevor ich scheitere, werde ich nun freier handeln können als je zuvor. Und ja, es ist noch nicht alles geschafft und das wird es auch nie. Es gibt noch so vieles zu tun, aber die Kürze meiner Zeit in dieser Welt ist nicht mehr gleichbedeutend mit einem Versagen.

Dies alles so sehen zu dürfen und zu erkennen, hatte den Preis, dass ich eine Liebe verloren habe. Ich bin hier, umgeben von all der Schönheit, belebt von so viel Dankbarkeit, aber ich kann sie nicht mit dieser besonderen Frau teilen, die so vieles dazu getan hat, dass ich fühlen kann, wie ich mich fühle. Ich weiß nicht, ob alles, was uns beglücken kann, mit einem Preisschild versehen ist. Du weißt wie ich, dass es keinen Gewinn ohne Verlust geben kann. Der Verlust, den ich gerade fühle, wiegt schwer und es gibt kein Aber, das ich anfügen kann, nichts, was es relativieren würde. Denn das ist eine andere Welt. Das Eine und das Aber liegen so jenseits voneinander, wie sie nur könnten.

Ich weiß nicht, wo mein Platz in den Reichen ist. Dieser Ort, an dem ich gerade bin, kennt kein ultimatives Gut und kein absolutes Böse. Er ist ähnlich moralisch und amoralisch wie Toril. Und obgleich ich glaube, wahrhaft glaube, dass mein Streben gerecht ist und dass in der Abwägung aus Liebe und Hass es immer die Liebe sein wird, die ein Quantum überwiegt, kann ich nicht sagen, was noch geschehen wird und wie viel Schmerz ich erzeugen werde, um diese Welt zu einer besseren zu gestalten. Aber ich weiß, dass meine Vorstellung die eines besseren Faerûn ist. Das wird nicht alles rechtfertigen, was ich zutun bereit bin und was ich tun werde, aber ich weiß, dass ich mich mit mir versöhnen kann und dass ich darüber hinaus kein Urteil fürchten muss.

Womöglich und sehr wahrscheinlich beinhaltet dieser Weg keine Liebe, die ich erfahren werde, nicht die Hoffnung, jemals für eine Person genug zu sein. Aber ich brauche diese Liebe nicht. Ich brauche diese Hoffnung nicht. Weil ich weiß, dass ich sie anderen geben kann, indem ich handle und ihnen es verschaffe zu lieben und zu hoffen. Ich werde Mauern niederreißen. Ich werde das tilgen, was vertilgt. So gnadenlos, wie es nötig ist und so gnädig, wie ich zu Gnade bereit bin. Ich bin entfesselt - zum ersten Mal - und ich werde diese Freiheit nehmen und nutzen, um die Fesseln zu sprengen, in die Tyrannen und Despoten die Schwächeren zwängen.

Alles, was mich selbst hielte, was mich selbst im egoistischen Gedanken an mein Glück, meine Geborgenheit einschränkte, ist fort. Es gibt keinen Ballast mehr jenseits jenem, den ich mir auferlege. Es gibt nichts mehr, was ich nur für mich wollte. Das schlussendliche Element, die Quintessenz, nach der so viele streben, die Liebe für einen selbst… für mich ist diese Liebe tot. Ich erlebe das und blicke um mich in dieser Welt voller Wunder. Und alles ist magisch und natürlich. Alles ist vollkommen.

Aren

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:03
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

das unnatürliche Grau des Himmels, das sich so drückend auf diese Stadt hinabsenkt, ist erstickend, brutal, deprimierend. Fortwährend blasen die Essen den Rauch in den Himmel, die Lichter der Öfen glühen, als würden Drachen ihren vernichtenden Odem in die Straßen speien. Die Schmiedefeuer dürfen nicht erkalten, für jene, die sie anfeuern, gibt es keine Nacht.

Ich habe hier einen jungen Burschen kennengelernt, Torren mit Namen. Ich traf ihn bei einem lautstarken Streit mit einem Händler am Hafenmarkt der Stadt. Der Gestank nach fauligem Fisch an diesem Ort frisst sich einem ins Hirn. Ich werde ihn nie vergessen. Ich stelle mir vor, wie es ist, hier zu leben, hier zu handeln, langsam diesen penetranten Geruch aufnehmend, widerstrebend am Anfang, bis man ihn nicht mehr merkt, ihn so vollständig aufgenommen hat, dass er einen assimiliert.

Torren stritt sich mit dem Händler um den Preis eines Fischbrötchens. Der Junge war kohlrabenschwarz. Offensichtlich war er einer, der Kohle in die Öfen schaufelte. Niederes Volk, selbst für die unterste Händlerschicht dieser Stadt, die sich hier in diesem stinkenden Reich einbilden durfte zu herrschen und willkürlich Preise festzulegen. Als Vorbild dafür dienen diesen Leute die Oberen der Stadt, die Handelsfamilien, die Bruils, die Leiyraghons, die Nanthers. Man spürt das Vakuum, das der Tod Dundeld Nanthers hinterlassen hat. Auch wenn der wohl nahende Bürgerkrieg zwischen den großen Familien dieser Stadt ausgetragen wird, sind es am Ende junge Kerle wie Torren, die ihren Kopf hinhalten müssen. Die Anspannung ist überall präsent und der drohende Konflikt schwelt an diesem Ort. So nahm ich es wahr und in dieser Atmosphäre, so abstrus es klingt, fürchtete ich, dass der Streit um dieses Fischbrötchen die Schrecken des Krieges entfachen konnte.

Dem jungen Torren widerstrebte das zutiefst, aber als ich eingriff, merkte ich, dass er selbst an einen Punkt geraten war, von dem er sich nicht mehr hätte lösen können. Er wusste, dass er hier, ob er nun Münzen hatte oder nicht, Bittsteller war und er hatte sich über diesen ihm zugedachten Stand erhoben. Und so einfach er diese Situation hätte lösen können, so sehr versagte es ihm seine Jugendlichkeit, das alles zu akzeptieren. Nicht nach stundenlanger Plackerei, nicht nach dem er seinen Körper und seine Seele über eine normale Schicht hinaus geschunden hatte. Er wollte leben, der andere wollte Geld. Das wird nie eine Relation sein. Und die volle Ungerechtigkeit dessen traf diesen Jungen. Ich fühlte seinen Zorn. Ich spürte seine Angst, eine Grenze überschritten zu haben und aus lauter Fatalismus nicht mehr zurückzukönnen. So jung so fatalistisch zu sein, was für ein Leben ist das?

Ich zahlte schließlich das Brötchen. Er sagte dann kein Wort. Schlang es hinter, sein Hunger bei weitem nicht gestillt. Und nichts hätte diesen Hunger stillen können, den nach Gerechtigkeit, einem bisschen Gerechtigkeit auch für sich. Irgendwann sprudelte alles aus ihm raus. Seine ganze Geschichte, von der Krankheit seines Vaters, dem Tod seines großen Bruders, vom Tod seiner kleinen Schwester, seiner Verpflichtung Geld heranzuschaffen, sich in seinen jungen Jahren zu schinden, tagein, tagaus, um jene Übriggebliebenen am Leben zu halten, jene, die er liebte.

Wir bauten Vertrauen zueinander auf. Er mochte mich, weil ich ihm zuhörte, und das allein ließ ihn seinen Stolz überwinden und mich ihm mit Essen auszuhelfen. Immer etwas mehr, so dass er auch etwas mit Nachhause mitnehmen konnte. Er erzählte mir von seinen Träumen, auf einem Schiff anzuheuern und die Welt zu entdecken, dereinst selbst Kapitän eines Schiffes zu sein. Seinem Leben hier und dieser Stadt, dieser Stätte der Erniedrigung, die Melvaunt für ihn war, zu entfliehen. Und glaub mir, Leni, wie gern hätte ich ihn mitgenommen; in voller Ignoranz seiner Familie ihn da raus zu bringen.
Vorgestern fand man ihn, kohlrabenschwarz und rot, in einer Gasse. Es war Raub. Er trug keine Münzen mehr bei sich. Dolche waren in seinen jungen Körper getrieben worden, hatten das Leben aus ihm getilgt. Womöglich von anderen; anderen, die noch verzweifelter waren. Mein Herz fühlt sich an, als sei es gebrochen und doch bin ich noch da. Wie kann das sein?

Wachen hätten patrouillieren sollen, als es geschah. Da wären eigentlich Wachen gewesen. Aber da waren keine, weil die Wache in Melvaunt unterbezahlt ist. Zu wenige Leute, das Geld reicht nicht. Melvaunt erhebt keine Steuern, sondern Gebühren auf Geschäfte. Und Geschäfte werden hier gemacht, mehr als genug. Aber wenn das Geld nicht eingesetzt wird, um die Menschen dieser Stadt zu schützen, wo geht es dann hin?

Die Wachen, die es gibt, konzentrieren sich auf den Schutz der Wohlhabenden. Ein Ratssitz kostet hier 100.000 Goldmünzen. Das scheint dann der ultimative Schutz zu sein. Dass der Fisch vom Kopf her stinkt, ist eine Wahrheit, die auf keine Stadt jemals so zutraf wie auf diese.

Ich stand vorhin vor der kleinen, verfallenen Hütte, in der Torrens Familie lebt. Ich hörte ein Schluchzen und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich habe selbst nur so viel Gold, wie ich brauche, um meine Arbeit hier zu verrichten. Ich habe Klamotten, die ich veräußern kann, für etwas Geld für die Familie, aber was würde ihr das bringen? Sie braucht einen Versorger und das kann ich nicht sein und niemand, dem ich etwas geben könnte, kann mir garantieren, diese Leute zu versorgen.

Ich werde gehen. Ich habe mich noch nie so geschämt. Ich hasse diese Ungerechtigkeit, ich hasse mein Unvermögen. Das Gold, was ich habe, lasse ich der Familie zukommen, auch wenn ich fürchten muss, dass das nur noch mehr Schaden verursacht. Morgen reise ich ab. Mögen die Götter Torrens Familie gnädig sein.

Das Grau dieses Himmels wird immer über mir sein, dieser Gestank wird ewig an mir und meiner Seele haften. Ich habe hier eine ganze Weile verbracht und ich verlasse Melvaunt überwältigt von Schmerz, doch wird mir die Erinnerung an Torren, sein helles Lächeln im rußgeschwärzten Gesicht, wenn er von einer besseren Zukunft träumte, für ewig bleiben. Ein Antrieb, für immer.

Aren

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Themenersteller Verfasst : 30. November 2023 23:03
(@dying-despot)
Fester Nebel Administrator

Leni,

der Schnee hat mich überrascht, gewaltige Mengen davon, die Auril in einer Zurschaustellung ihrer Unerbittlichkeit über das Land jagt. Ich sitze in der Ruine eines verlassenen Bauernhauses, vor Wind und schlimmster Kälte geschützt und habe ein kleines Feuer entzündet. Der Rauch verwirbelt, zieht durch die zahlreichen Lücken in Gebälk und Dach, die schief in den Angeln hängende Tür und die kaputten Fensterläden ab. Ich rieche ihn kaum. Das Feuer wärmt nicht, aber lässt mich zumindest diesen Brief mit zitternder Hand schreiben. Sieh es mir nach. Es ist zu lange her und recht bezeichnend, dass es eine solche Situation braucht, um mich darauf zu besinnen, mich bei dir zu melden, obgleich du so oft in meinen Gedanken bist.

Erinnerst du dich an die Umbrechts? Sie hatten eine kleine, windschiefe Hütte im Osten der Stadt. Sie waren bitterarm. Der Mann, Wigard, half meist bei der Ernte. Ein bärenstarker Kerl, der uns, als wir noch klein waren, umso riesiger vorkam, mit einem ebenso großen Herzen. Die Frau, Ferda, war, glaube ich, Wäscherin. Zumindest erinnere ich mich daran, dass sie stets der Geruch nach sauberer Kleidung und Seife umgab. Sie hatten sieben Kinder, allesamt jünger als wir. Ich kann mich nur an einige ihrer Namen erinnern oder zumindest daran, wie sie gerufen wurden. Mikel, Phine, Balter, Reti. Sie lebten auch noch dort, als ihr schon fortwart.

Es war ein kalter Novembertag, mutmaßlich 1359, kurz nach dem ersten Schneefall. Ich sollte irgendwas für die Küchenleute im Zauberer besorgen. Ja, die Doppelgänger, und jetzt hör auf, mit deinen Gedanken abzuschweifen. Es geht um etwas ganz anderes. Jedenfalls machte ich mich auf zu den Markständen und entdeckte Wigard, der sich dort mitten auf der Straße mit dem Bron stritt. Ich wusste bis zu dem Zeitpunkt nicht, dass Wigard überhaupt laut werden konnte und obgleich ich keine Erinnerung daran habe, um was es ging, glaube ich, den Bron und die unvermeidlichen Büttel, die ihn flankierten, vorher noch nie so in der Defensive erlebt zu haben, zumal Wigard keinerlei Waffen trug – mal abseits von seinen riesigen Pranken. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass keiner anhielt, um die Sache zu beobachten, geschweige denn irgendwie Partei zu ergreifen. Alle zogen die Köpfe ein und machten sich daran, schnell zu verschwinden. Weil ich damals auch nicht vollkommen verblödet war, ging ich ebenfalls weiter und suchte mir zumindest eine sichere Position hinter einer Hausecke. Irgendwann ballte Wigard seine Fäuste und ich dachte: Jetzt geht’s los. Und ich schwöre dir, dass ich damals nicht drauf gewettet hätte, wie die Sache ausgeht. Heute bin ich – zumindest in der Hinsicht – etwas schlauer. Aber es passierte nichts. Der Streit wurde leiser und irgendwann stapfte Wigard davon. Ich wartete, bis sich Buorstag und seine Lakaien verzogen hatten und erledigte die Einkäufe.

Am nächsten Tag waren die Umbrechts fort. Als ich davon hörte, war natürlich mein erster Gedanke, dass die Büttel sie geholt hatten. Was natürlich dämlich war, denn nach so einer Sache gleich beide Eltern mitsamt aller Kinder zu holen, wäre selbst für Buorstag einen Zacken zu scharf gewesen. Die Familie hatte sich schlicht davon gemacht, mit aller bescheidenen Habe bei dieser unwirtlichen Witterung. Niemand wusste, wohin sie gegangen waren. Sie müssen in der Nacht abgehauen sein, ohne dass ein Plärren der Kleinen ihre Flucht und die Richtung, die sie einschlugen, den Nachbarn verraten hatte. Die Hütte stand dann leer und ab und an nach der Arbeit bin ich dahin, hab mich an auf den Boden gesetzt und geschnitzt oder hing Tagträumen nach.

Nur einmal fragte ich meine Eltern, was wohl Wigard und seiner Familie geschehen war und wohin sie wohl gegangen sind. Ob der Bron sie aus der Stadt gejagt hat. Meine Eltern meinten, soweit ich mich entsinne, nur, dass sie ihr Glück woanders gesucht hatten und ich das am besten vergessen sollte. Womit sie mir zu verstehen gaben, dass ich mit niemandem in der Stadt darüber sprechen sollte. Was ich auch nie gemacht habe. Ebenso wie kein anderer in der Stadt, zumindest in meinem Beisein, je wieder Wigard oder Ferda erwähnt hat. Auch die Namen von Phine, Mikel, Balter, Reti und den anderen fielen nie mehr. Nicht einmal die anderen Kinder sprachen von ihnen.

Jetzt in dieser verlassenen Hütte denke ich an sie und wenngleich ich den Rauch wegblinzeln muss, sehe ich Wigard, diesen Giganten unter den Menschen mit seinem warmherzigen Lächeln vor mir und trotz halb-abgefrorener Nase meine ich den Duft Ferdas nach frischer Wäsche und Seife zu riechen.

Wen hat diese Hütte wohl einst beherbergt? Wer hat hier gelebt und warum wurde sie verlassen? Ich weiß, dass ich Antworten finden würde, wenn ich sie tatsächlichen suchen wollte. Aber manchmal ist es besser, nicht an das Vergangene zu rühren. Manchmal will man nur hoffen, dass jemand sein Glück gefunden hat.

Aren

 

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Themenersteller Verfasst : 12. Januar 2025 2:32